Modulbau mit Variel-Elementen: Das gestapelte Haus aus dem Aargau
Nach Ausbruch der Coronapandemie in der chinesischen Metropole Wuhan kursierten in den digitalen Medien Zeitraffer-Aufnahmen vom Bau von Notfallspitälern, die innert weniger Tage einsatzbereit waren. Im Westen spöttelte man daraufhin über die eigene Trägheit beim Bau von öffentlichen Einrichtungen, deren Planungs- und Bewilligungsphasen üblicherweise Jahre in Anspruch nehmen. Das war nicht immer so. Im Aargau konnten Spitalbauten ebenfalls «tempoteufel» realisiert werden, wie unser historisches Bild des Monats illustriert.
Irgendwann 1973: Im Areal des Kantonsspitals Aarau stapelt ein Spezialkran im Akkord schiffcontainergrosse Raumelemente über- und nebeneinander. Die eingespielte Montageequipe schafft zehn bis zwölf Stück pro Tag, 80 sind es total. Binnen kurzer Zeit entsteht so eine betriebsbereite Neurochirurgie, denn die Elemente geben nicht etwa einem Rohbau die Gestalt, nein, die Raumzellen umfassen bereits Fenster, Installationen und Oberflächen.
Das universelle Baukastensystem
Was hier geschieht, ist recht typisch für die Bauindustrie jener Jahre: Die Idee vom Bauen mit Systemen, vom Bauen mit vorfabrizierten Elementen, stand hoch im Kurs. Ihr wurde das Potenzial zugeschrieben, die seit Jahrzehnten vorherrschende Unterversorgung der Wachstumsgesellschaft mit modernen Infrastrukturen zu gewährleisten.
Unter einer Fülle verschiedener Bau- und Vorfabrikationssysteme stach jenes besonders hervor, welches beim Kantonsspital Aarau zur Anwendung gebracht wurde: Variel. Der Name stand für «variables Element» und wies darauf hin, dass das Produkt für verschiedene Bauaufgaben zur Anwendung gebracht werden konnte. Variel taugte zum Bau von Kasernen ebenso wie für Ein- oder Mehrfamilienhäuser, für Kindergärten, Schulen, Altersheimen, Büros oder eben: Spitäler.
Aus dem Freiamt in die ganze Schweiz
Erfunden hatte Variel der Zuger Architekt und Unternehmer Fritz Stucky (1929–2014). Nach einer mehrjährigen Entwicklungsphase entstanden seine Raumzellen ab 1962 in Auw im Oberfreiamt in einer hochmodernen Fliessbandproduktion. Später kam als zweiter Produktionsstandort Villmergen hinzu. Ein dritter sollte sich im Tessin etablieren. Die Betonelemente verliessen die Fabrik auf Lastwagen, um auf der Baustelle direkt montiert zu werden.
Stucky hatte das Bauen neu gedacht. Es fand nun wetterunabhängig zu 90 Prozent in der Fabrik statt, und zwar samt Innenausbau von der Badewanne zum Bodenbelag bis zum Farbanstrich. Der Erfolg von Variel liess nicht lange auf sich warten. Namentlich als Schulen und Kindergärten sowie als Bürobauten fand das System breite Anwendung und die charakteristisch-strenge Rasterfassade dieser Bauten ist noch vielerorts zu sehen.
1966 vermeldete die Firma, dass bereits 1000 Schulzimmer aus Variel-Modulen gebaut worden seien. Schon ein Jahr zuvor expandierte Variel nach Deutschland und Frankreich. Bald existierten 40 Lizenznehmer weltweit und in 13 Fabriken waren gegen 2500 Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Produktion von Variel-Modulen beschäftigt.
Bis Mitte der 1970er-Jahre verliessen 50’000 dieser stapelbaren Hauselemente die Fabriken. Dann wurde auch Variel, wie die ganze Bauindustrie, von der Krise erfasst. Stuckys Erfolgsprodukt ereilte das gleiche Schicksal wie alle Vorfabrikationssysteme. Nach und nach stellten sämtliche Standorte ihre Produktion ein. Der Spuk vom Bauen mit Systemen und vorfabrizierten Betonelementen war nach 15 Jahren wieder vorbei.