Social Media zieht in den Krieg: Noch nie hatte die globale Öffentlichkeit so viel Macht
Lebt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski noch? Ein Blick auf Twitter: Je nach dem, wie lange seine letzte Meldung dort her ist, desto grösser oder kleiner die Sorge. Ist die ukrainische Hauptstadt Kiew gerade unter Beschuss? Wieder Blick in ein Soziales Netzwerk, ob jemand eine Fliegeralarm-Meldung abgesetzt hat.
Dieser Krieg findet nicht mehr erst nach Feierabend in der Tagesschau statt – von Journalisten gut dosiert aufbereitet, von einer gefassten Moderatorin präsentiert und konsumiert mit Abstand zum Fernsehbildschirm. Nicht einmal die Eilmeldungen der Online-Newsportale zeigen den Krieg so, wie es aktuell in Sozialen Medien wie Twitter passiert.
Wer auch immer durch einen Social-Media-Kanal scrollt, dem blickt nun Selenski’s Volk entgegen. Die Ukrainer posten Videos aus Kellern, von Balkonen mit Blick auf Rauchfahnen, sie zeigen die neusten Beschädigungen an Gebäuden. Live. Denn der russische Präsident Putin hat im Social-Media-Zeitalter Bodentruppen in ein souveränes Land geschickt. Und in eine grosse Hauptstadt, wo Handykameras an jeder Strassenecke filmen.
Es ist ein Krieg, in dem nicht nur gehört wird, was staatliche Stellen und Medienschaffende transportieren. Es ist eine dritte Ebene dazu gekommen: Was die Menschen im Kriegsgebiet vor Ort filmen und ins Netz hochladen. Alle sind jetzt Kriegsberichterstatter und der Präsident vertwittert derweil den Verhandlungserfolg mit jedem einzelnen europäischen Land und wiederholt damit eigentlich nur eine Nachricht: «Die Welt verbündet sich mit der Ukraine, nicht mit Russland.»
Selenski wurde zum perfekten Frontmann
ETH-Sicherheitsexperte Niklas Masuhr sagt: «Selenski gibt den Menschen in der Ukraine ein Gesicht. Das funktioniert über die sozialen Medien besonders gut, weil diese per se suggerieren, dass man dichter an einer Person dran ist, als dies tatsächlich der Fall ist.»
Als im Donnerstag, 24. Februar, die Russische Armee in der Ukraine einfiel, ging plötzlich eine Video-Ansprache viral, die der Präsident zwei Tage davor gepostet hatte. In seiner Muttersprache Russisch wandte er sich an die russische Bevölkerung und sagte: «Wir sind verschieden, aber das ist kein Grund, Feinde zu sein. Wir wollen an unserer eigenen Geschichte bauen. Friedlich, ruhig, wahrhaftig.»
Er wehrte sich gegen die Behauptungen Russlands, er bombadiere die pro-russischen Gebiete in der Ukraine und fragte: «Donetsk? Wo ich duzende Male war? Ich habe ihre Gesichter und Augen gesehen. Artema? Wo ich mit Freunden spazieren gegangen bin? Die Donbass Arena? Wo ich mit den Einheimischen für unsere Jungs gefiebert habe während der EM? Lugansk? Die Heimat der Mutter meines besten Freundes? Der Ort, wo sein Vater begraben liegt? (…) Das alles ist für euch fremd, unbekannt. Das ist unser Land. Unsere Geschichte. Wofür werdet ihr kämpfen? Und gegen wen?»
Er machte klar, dass sich sein Land verteidigen würde: «Nicht angreifen – verteidigen! Wenn ihr uns angreift, werdet ihr unsere Gesichter sehen. Keine Rücken – unsere Gesichter.»
Der amerikanische Fernsehsender CNN brachte Ausschnitte davon. Ein Youtuber postete das ganze Video mit englischen Untertiteln und der deutsche Schauspieler und Filmemacher Patrick Moelleken vertwitterte es. Seither ist es überall. Auch Selenskis Satz: «Im Krieg verlieren Leute ihr Geld, ihren Ruf, die Lebensqualität, Frieden und das Wichtigste: Die Leute verlieren ihre Lieben. Und sich selber.»
Innert zwei Tagen wurde der ukrainische Präsident zum gefeierten Helden, nicht nur in seinem eigenen Land. Es kursieren Bilder aus der unbeschwerten Vergangenheit, darunter ein Familienfoto mit Selenskis Frau und den beiden Kindern, die vergnügt lachen, der Vater hatte eine Superman-Maske aufgeschminkt.
Es gibt keine Informations-Hoheit mehr
«Was wir jetzt erleben, ist komplett anders als die Informationskriege von früher», sagt der deutsche Kommunikationswissenschafter und Nachrichten-Experte von der Technischen Universität Dresden, Lutz Hagen. Noch immer gilt zwar, dass die Informationshoheit eine wichtige Waffe ist. Putin hat die Staatsmedien längst unter Kontrolle, aber das reicht nicht mehr.
Denn Youtube, Facebook, Twitter, Instagram und TikTok sind globale Medien. Bereits im Oktober sperrte Youtube zwei Kanäle von Russia Today, die Falschinformationen zu Corona verbreiteten. Nun wurde Russia Today-Kanälen die Möglichkeit genommen, auf Youtube Werbung zu schalten.
ETH-Experte Masuhr sagt: «Die Öffentlichkeit ist nicht mehr darauf angewiesen, dass ein Botschafter oder ein Politiker vor die Kamera tritt und seine Seite darlegt. Der Informationsfluss funktioniert über Gesellschaften hinaus und in Gesellschaften hinein.»
Die Nachrichten aus den Sozialen Medien sind nicht gesichert
Doch das birgt auch Gefahren: «Wir haben zwar mehr Bilder und Informationen aus dem Kriegsgebiet, aber die finale Gewissheit muss oft erst noch festgestellt werden», sagt Masuhr. Die kursierenden Nachrichten aus den sozialen Medien müssen verifiziert werden. Zu Desinformation kam es in den vergangenen Tagen bereits – gewollt wie auch ungewollt.
Masuhr verweist auf die Meldung, die Ende vergangene Woche kursierte, dass russische Fallschirmjäger über Kiew abgesprungen sein sollen. Diese Nachricht verbreitete sich über Twitter. Erst später stellte sich heraus, dass eine Lichtspiegelung auf der Fotografie zu dieser Falschannahme führte. «Doch die Geschichte hatte bereits ein Eigenleben entwickelt», sagt er. Und bei diesem Krieg sei es selbst für Experten nicht immer einfach, die aufgenommenen Geschehnisse eindeutig zu analysieren. Der Grund: Russland und die Ukraine verwenden häufig praktisch dasselbe Equipment.
Selbst wenn die Echtheit der Videos und Nachrichten nicht überprüft werden kann, bedeutet dies Macht. Die Ukraine ist vernetzt mit der globalen Öffentlichkeit. «Es löst weltweit Resonanz und Betroffenheit aus», sagt Lutz Hagen.
Die Mobilisierung der Bevölkerung, die bereits zu beachtlichen Demonstrationen in Europa geführt hat, beeinflusst die Regierungen. «Natürlich schauen die demokratischen Regierungen auf die öffentliche Meinung», sagt Hagen.
Aber die grosse Betroffenheit sei nicht nur Social Media geschuldet, findet Hagen: «Es ist schlicht von grösster Bedrohlichkeit und lange nicht mehr gesehen, dass in Europa ein souveränes Land in einem Angriffskrieg überfallen wird.» Von einem Tag auf den anderen wurde so möglich, dass Deutschland Waffen in ein Kriegsgebiet liefert und die Schweiz über ihre Neutralität ernsthaft nachdenkt.
Putin bekommt von alle dem vielleicht nichts mit
Und Putin selbst? Bekommt er von diesem Informationskrieg etwas mit und von der Unterstützung, die sich zusammenbraut? Vielleicht nicht. Laut dem Buch «In Putins Kopf» (2016) des französischen Philosophen Michel Eltchaninoff kommuniziert Putin nicht per E-Mail, er misstraut den neuen Technologien und beklagt die Abkehr von Büchern, in die er sich selber vertieft. Eltchaninoff schreibt: «Laut den Interviewpartnern für dieses Buch liest Putin weder Zeitungen, noch zieht er das Internet zurate, da es ihm nicht vertrauenswürdig erscheint. Aktuelle Nachrichten erhält er durch Akten, die ihm zugestellt werden, oder durch rote Dossiers, die ihm von Mitarbeitern auf dem Schreibtisch bereitgelegt werden.»
Sicherheitsexperte Masuhr weist allerdings darauf hin, dass Russland die sozialen Medien früher für seine Zwecke durchaus zu benutzten wusste. «Über die staatsnahen Medien und das Netz hat Russland es beispielsweise immer wieder geschafft, Zweifel über Kriegsverbrechen in Syrien zu sähen.» Doch dass Russland jetzt die eigene Sichtweise zum Ukrainekrieg noch durchbringen kann, glaubt Masuhr nicht. Zumindest nicht im Westen: «Die Invasion und deren Legitimation ist derart plump, dass Russland sich die Basis für die eigene Erzählung geraubt und die strategische Kommunikation in Richtung Westen verloren hat. Das lässt sich selbst mit Desinformation wohl nicht mehr aufholen.»
Wie in der Ukraine rollen auch in Myanmar Panzer über die Strassen, donnern Gewehrsalven und verhängen dicke Rauchwolken den Himmel. Die Hintergründe der Konflikte sind nicht vergleichbar. In Myanmar geht die Militärjunta seit ihrem Putsch mit brutalster Gewalt gegen die eigene, pro-demokratische Bevölkerung vor. In der Ukraine dringt der Feind von aussen ein. Was gleich ist: Das Grauen lässt sich über die sozialen Medien in Echtzeit mitverfolgen.
In Myanmar gelang es der Junta bei früheren, grossen Aufständen wie 1988 noch, den Informationsfluss ins Ausland zu kappen. Beim Putsch von 2021 ist dies nicht mehr der Fall. Die digitale Öffnung des Landes lässt sich nicht zurückdrehen.
Die junge Generation, die den Widerstand in Myanmar stark mitprägt, organisierte und informierte über das Geschehen in ihrem Land auf verschiedenen Plattformen: Twitter, Telegramm oder Facebook. Sie stellten Videos online, die Soldaten beim Niederschiessen von Protestierenden zeigen. Sie sendeten per Livestream, wie Polizisten plünderten und prügelten. Und auch in der Gegenwart senden sie die wichtige Botschaft: Der Widerstand ist ungebrochen. So tauchen Videos von Flashmobs auf, die gegen die Junta protestieren.
Dabei hatte diese den Zugang zu den sozialen Medien kurz nach dem Putsch unterbunden. Doch die Menschen besorgten sich SIM-Karten aus Thailand oder nutzen ausländische VPN’s, um die Sperrungen zu umgehen. Das soll bald nicht mehr möglich sein. Mit einem Gesetz zur Cybersicherheit will die Militärjunta unter anderem die Verwendung von VPNs verbieten. (aba)