Sie sind hier: Home > Psychologie > Kinder üben den Umgang mit Gefühlen – denn wer sie unter Kontrolle hat, kommt eher ins Gymi

Kinder üben den Umgang mit Gefühlen – denn wer sie unter Kontrolle hat, kommt eher ins Gymi

Auch der Umgang mit Gefühlen lässt sich trainieren – und zwar schon als Kindergartenkind. Das ist wichtig für die Schulkarriere. Dabei hat sich ein Programm aus der USA besonders bewährt.

Geballte Fäuste, zusammengekniffene Gesichter, angespannte kleine Körper – da muss die Plüschschildkröte Schildi nicht lange überlegen. «Seid ihr wütend?», fragt sie mit der Stimme der Lehrerin. Die Kinder nicken verschmitzt. Die Kindergartenklasse der Schule Wilacker im zürcherischen Adliswil beschäftigt sich heute Morgen mit Gefühlen. Je nach dem vorgezeigten Emoji stellen sie die sechs Grundgefühle dar: glücklich, müde, traurig, ängstlich, verschlossen oder eben: wütend.

Zu Beginn der Lektion haben sie in sich hineingehorcht und auf ihrer Gefühlsuhr den Zeiger auf den ihnen entsprechenden Gemütszustand gestellt. «Ich bin müde, weil ich nicht gut geschlafen habe», teilt ein Bub seinem Sitznachbarn mit. Und ein Mädchen sagt: «Ich bin glücklich, weil ich im Kindergarten bin.»

Die Kindergarten-Lehrerin lässt die Schildkröte sprechen und nach Gefühlen fragen.
Valentin Hehli

Das Schulhaus Wilacker arbeitet seit bald zehn Jahren mit dem Programm Denk-Wege, das der Universität Zürich angegliedert ist. Damit sollen Gewalt und Mobbing an Schulen reduziert werden. Das Programm wurde in den USA entwickelt und 2005 auf Schweizer Verhältnisse angepasst. Mittlerweile arbeiten bereits über 100 Schulen in 13 Kantonen damit. Das Programm stellt den Lehrpersonen pfannenfertige Lektionen und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung, die vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse aufeinander aufbauen und differenzierter werden.

Alle Gefühle sind okay, findet die Expertin

«Gefühle sind weder gut noch schlecht, sondern wichtige Signale», stellt Denk-Wege-Projektleiterin Rahel Jünger von der Universität Zürich klar. «Worauf es ankommt, ist, wie wir mit den Gefühlen umgehen und uns verhalten.»

Zu Beginn stellt jedes Kind den Zeiger auf seine Grundstimmung.
Valentin Hehli

Für Lehrpersonen ist es wichtig, dass die Kinder auch darin Fortschritte machen und nicht nur im Rechnen und Lesen. Denn Kinder, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben oder bei Konflikten nicht angemessen reagieren, erschweren den Schulaltag. «Die Schulen berichten von eskalierenden Konflikten, Unfrieden und Verhaltensauffälligkeiten», erzählt Jünger. «Sie suchen nach einem pädagogischen Konzept, das Beruhigung bringt und auch präventiv wirkt.» Der Effekt sei mittels aufwändiger Studien nachgewiesen worden, betont die ehemalige Primarlehrerin und promovierte Pädagogin und verweist auf die international beachtete z-proso-Studie, die seit 2004 in der Stadt Zürich durchgeführt wird. Dabei habe man aber auch erkannt, dass eine stetige Auseinandersetzung und Vertiefung nötig ist, damit sich die Fähigkeiten längerfristig halten. Deshalb zieht sich das Programm heute im besten Fall über acht Schuljahre hinweg durch.

Tief durchatmen, sich beruhigen

Eine neuere Studie der Universität Zürich kommt sogar zum Schluss, dass das Training sozio-emotionaler Kompetenzen mit Denk-Wege mehr Kinder für das Gymnasium und ein Studium befähigt, weil sie weniger Symptome von Aufmerksamkeitsdefiziten (ADS und ADHS) zeigen.

Der konstruktive Umgang mit Konflikten zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch die Altersstufen hindurch. Die Kinder lernen Strategien kennen, mit denen sie sich beruhigen und miteinander reden können. In jedem Klassenzimmer hängt das Bild einer Ampel, welche die nötigen Handlungsschritte von rot über gelb bis grün bildlich darstellt: Tief durchatmen, sich beruhigen, über das Problem und die Gefühle reden, Ideen für eine Versöhnung finden, diese umsetzen und den Prozess später reflektieren.

«Die Umsetzung im Alltag funktioniert bereits gut»

Demnächst will die Schule in Adliswil auch Matten in den drei Farben anschaffen, die an verschiedenen Stellen im Gebäude und auf dem Areal ausgelegt werden können. Streithähne können sich zuerst auf einer roten Unterlange platzieren, dann zu gelb wechseln und sich auf einer grünen Matte treffen, um Frieden zu schliessen.

«Die Umsetzung im Alltag funktioniert bereits gut», sagt Schulleiterin Nicole Holdener-Keller. Aber natürlich müssten die Kinder regelmässig wieder an die erlernten Fähigkeiten erinnert werden.

Monika Huber, Lehrerin für Deutsch-als-Zweitsprache zeigt ein Emoji.
Valentin Hehli

Nach dem Znüni im Adliswiler Kindergarten erhält die Klasse Arbeitsblätter mit Bildern, zu denen ein Emoji gezeichnet werden soll. Neben dem Geburtstagskuchen prangt bei allen Kindern ein breites Smiley, während der Schwumm im Wasser unterschiedliche Emotionen auslöst: Einige Kinder zeichnen zufriedene Gesichter, andere angstvoll aufgerissene Münder und Augen. «Es gibt kein Richtig oder Falsch», stellt Kindergärtnerin Carolin Raich klar. «Jeder fühlt sich anders.»

Fähigkeiten fürs ganze Leben

Raich schätzt am Programm den sprachlichen Zugang: «Es ist wichtig, dass man seine Gefühle benennen kann.» Besonders profitieren würden fremdsprachige Kinder. Weiter lernen die Kinder, empathisch gegenüber ihren Mitmenschen zu sein. Immer wieder komme es vor, dass Kinder sie darauf hinweisen, wenn eines ihrer Kameraden traurig oder wütend ist, erzählt Raich.

Einen guten Ansatz findet sie zudem, dass jede Woche jemand anders zum «Kind der Woche» gekürt wird. Im Kindergarten darf dieses dann zum Beispiel auf einem besonderen Stuhl sitzen oder die Zweierreihe auf dem Weg ins Turnen anführen. Zudem erhält es Ende Woche Komplimente, die von den Kindern und seinen Eltern zusammengetragen werden. «Die Komplimenten-Dusche stärkt das Selbstwertgefühl und lenkt bei den anderen Kindern die Aufmerksamkeit auf die positiven Eigenschaften», ergänzt Monika Huber, Lehrerin für Deutsch-als-Zweitsprache. Das Arbeiten an den sozialen Kompetenzen sei zwar schon immer zentral gewesen im Kindergarten, sagt Huber. Doch mit Denk-Wege geschehe dies strukturierter und verbindlicher. «Wenn die Kinder diese Kompetenzen immer wieder einüben, ist das eine echte Lebenshilfe», ist Huber überzeugt. «Schliesslich ist die Umsetzung auch für viele Erwachsene eine grosse Kunst.»