Vor zwei Wochen stellte sich der Grosse Rat hinter die integrative Schule – vorbei ist die Debatte damit nicht
Sabina Freiermuth und die FDP wollten die integrative Schule abschaffen. Jürg Baur und die Mitte möchten sie nun retten.
Zwei Wochen ist es her, als die FDP-Parteipräsidentin mit ihrer Motion scheiterte, im Aargau Förderklassen einzuführen. Statt integrativ in der Regelklasse sollten lernschwache oder verhaltensauffällige Kinder separativ unterrichtet werden, so Freiermuths Idee. Das Parlament lehnte den Vorstoss letztlich mit deutlicher Mehrheit ab. Einzig die FDP stellte sich geschlossen hinter ihre Parteipräsidentin.
Nun nutzt Mitte-Grossrat und Schulleiter Jürg Baur das Signal des Grossen Rats für eine Stärkung der integrativen Schule. In einem Postulat fordert er den Regierungsrat dazu auf, konkrete Massnahme «zum Gelingen der integrativen Schulform mit einem Mehrwert» zu ergreifen.
«Wir bezeichnen die integrative Schulform nicht als gescheitert», schreibt Baur. Er richtet sich damit direkt an den nationalen FDP-Präsidenten Thierry Burkart, der die integrative Schule im Sommer in einem Positionspapier so betitelte. Stattdessen schreibt Baur etwas verklausuliert, dass die integrative Schule aufgrund verschiedenster Erfahrungen und Erkenntnisse weiterentwickelt werden müsse.
Weiterentwicklung? Was stellt sich Baur darunter konkret vor?
Kinder mit Verdacht auf Autismus-Spektrum- oder möglichen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sollen schneller abgeklärt werden, schreibt Baur. Es ist eine von verschiedenen möglichen Massnahmen, die der Schulleiter im Teilzeitpensum in Lenzburg dem Regierungsrat vorschlägt. Er denkt etwa an eine rasche Umsetzung der bereits geforderten Frühfördermassnahmen. An einen Abbau der Wartelisten von Schülerinnen und Schülern für eine Sonderschule. Oder an vermehrte Unterstützung von Lehrpersonen durch Weiterbildung im Umgang mit heterogenen Lerngruppen oder verhaltensauffälligen Schulkindern.
Gegnerinnen und Befürworter der integrativen Schule argumentieren mit der Wissenschaft
Sabina Freiermuth argumentierte vor zwei Wochen mit der Wissenschaft gegen die integrative Schule. Sie nennt eineMetastudie von 2022, also eine Analyse verschiedener anderer Studien zur integrativen Schule: Lediglich 15 von 94 untersuchten Studien hätten eine befriedigende wissenschaftliche Qualität aufgewiesen, so Freiermuth. «79 Stück waren derart einseitig, dass die Resultate als irreführend beurteilt wurden.»
Auch Baur zückt in seinem Vorstoss die Wissenschaft als Argument – kommt aber zu gänzlich anderen Erkenntnissen. Diverse Querschnittstudien kämen zum Schluss, dass Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten in integrativen Schulformen bessere Leistungen zeigten als in separativen Settings, so Baur. Ähnlich fielen auch die Resultate der wenigen Längsschnittstudien aus – wenn auch weniger deutlich als in den Querschnittstudien. Als mögliche Gründe sieht Baur positive Vorbilder für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Auch werde mehr von ihnen erwartet.
Über Baurs Postulat wird im neuen Jahr abgestimmt – unter neuen Vorzeichen. Mit einer rechtsbürgerlichen Mehrheit im Grossen Rat und einer erklärten Gegnerin der integrativen Schule als Bildungsdirektorin: Martina Bircher.