Stromkrise: Im Notfall würde es sehr, sehr schmutzig
Bereits sind Bäume abgeholzt, Baumaschinen aufgefahren und ein Feld planiert. Zwei gelbe Krans ragen in den Himmel bei Birr, die Arbeiten auf dem Gelände von General Electric schreiten zügig voran. Es bestehen kaum Zweifel: Weder Demonstrationen noch eine hängige Einsprache werden das Gas- und Ölkraftwerk verhindern können.
Das Reservekraftwerk Birr, das der Bund derzeit aus dem Boden stampft, ist ein Symbol geworden für die Angst vor zu wenig Strom im Winter. Ein stinkender und lärmiger Anachronismus in einer Zeit, in der alles auf die Erneuerbaren setzt. Eine letzte Bastion aber auch, wenn alle anderen Mittel versagen – der internationale Strommarkt, die hauseigene Wasserkraft, die Sparappelle an die Bevölkerung.
«Birr ist für das ganze Land wichtig, nicht nur für die Region oder den Kanton», sagte Energieministerin Simonetta Sommaruga am Mittwoch an einer Pressekonferenz in Bern. In den Stunden davor hatte der Bundesrat das Zusammenspiel der verschiedenen Massnahmen geregelt, die einen Strommangel im Winter beheben sollen.
Dazu gehören eine Wasserkraftreserve, Notstromaggregate, die Erhöhung der Kapazitäten im Übertragungsnetz, eine zwischenzeitliche Reduktion der Restwassermenge bei Flusskraftwerken, ein Rettungsschirm für Stromkonzerne – und das Notkraftwerk Birr. Diese Massnahmen gehen jetzt in die Vernehmlassung, im Februar sollen sie in Kraft treten.
70’000 Liter Heizöl pro Tag
Geplant war ursprünglich ein sogenannter Gas-Peaker, ein Kraftwerk für Spitzenlastzeiten ab Winter 2025. Mit Kriegsausbruch in der Ukraine verschärfte sich die internationale Versorgungslage jedoch und das Projekt wurde immer dringlicher. Inzwischen plant das Bundesamt für Energie zudem mit einem noch schmutzigeren Treibstoff: Öl, gemischt mit Wasser.
Der Verbrauch ist immens: Das Kraftwerk in Birr verbrennt in einem Tag im Vollbetrieb 1’68’000 Liter fossile Brennstoffe. Das entspricht dem Heizölverbrauch von über 800 mittelgrossen Einfamilienhäuschen – in einem ganzen Jahr, wohlverstanden.
Diese Rechnung stammt von Jürg Hornisberger, Supply and Marketing Manager bei Tamoil. Als solcher hat er auch Einsitz in Carbura, der Schweizer Pflichtlagerorganisation für Brennstoffe unter Oberaufsicht des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL). Und dieses wiederum stellt derzeit in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Energie die Schweizer Stromversorgung im Winter sicher.
Zisternenwagen sind Mangelware
Die plötzliche Notwendigkeit von so viel Erdöl bringt logistische Schwierigkeiten mit sich. Zwar ist Birr gut erschlossen, sowohl vom Schienen- wie vom Stromnetz. Aber wenn das Kraftwerk unter Volllast laufen müsste, dann bräuchte es dafür jeden Tag einen Güterzug mit 20 Zisternenwagen. Diesen in den Schweizer Fahrplan aufzunehmen, ist nicht ganz trivial. Ausserdem sind Zisternenwagen in Europa derzeit Mangelware.
Das Bundesamt für Energie ist hingegen zuversichtlich. «Mit den getroffenen Vorkehrungen könnte das Kraftwerk insgesamt rund 330 Stunden unter Volllast laufen», sagt Sprecherin Marianne Zünd. Allerdings kaum am Stück, sondern eher jeweils für ein paar Stunden.
Denkbar ist auch, dass das thermische Kraftwerk die Speicherseen kurzfristig entlastet oder diese sogar wieder etwas Wasser hochpumpen können – für den nächsten Engpass. In einem solchen Fall bliebe genug Zeit, um für Nachschub zu sorgen. Anders sieht es aus, wenn die Energie längerfristig knapp wird. Für einen mehrtägigen Dauereinsatz taugt Birr nicht.
Es besteht Anlass zur Hoffnung
Aktuell scheint dieses Szenario glücklicherweise auch nicht realistisch. «Die derzeitige Entwicklung am Strommarkt signalisiert eine Entspannung der Lage», sagte Werner Luginbühl, Präsident der Eidgenössischen Elektrizitätskommission. Noch im August sei eine Megawattstunde Strom für über 1000 Euro gehandelt worden; inzwischen sei es weniger als die Hälfte. «Das beweist das Vertrauen in die Marktakteure», sagte Luginbühl.
Die Gründe für die Preisentwicklung liegen etwa in Frankreich, das mit einer grossflächigen Inbetriebnahme der stillgelegten Atomkraftwerke rechnet. Ausserdem haben viele Staaten rasch auf Putins Drohgebärden am Gashahn reagiert: Die Speicher in Westeuropa sind zu 93 Prozent gefüllt und Flüssiggas-Terminals lassen auf alternative Lieferketten im Winter hoffen.