Drama um Totgeburt: Syrische Familie forderte 885’000 Franken Genugtuung – geworden sind es 13’000 Franken
Das Bundesgericht hat eine Beschwerde einer syrischen Familie teilweise gutgeheissen. Die Schweiz muss auch dem Ehemann 1000 Franken Genugtuung bezahlen für das seelische Leid, das er wegen des Verhaltens der Grenzwacht erlitt. Dies teilte das Bundesgericht am Freitag mit.
Seiner Ehefrau hatte das Bundesverwaltungsgericht im Oktober 2022 12’000 Franken zugesprochen. Der Mann, der bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges an einem Gymnasium Englisch und Arabisch unterrichtete, ging leer aus. Die Richter in Lausanne kritisierten, die Vorinstanz habe zu Unrecht nicht geprüft, ob dem Ehemann als Direktbetroffenem eine Genugtuung zustehe.
Zwar habe er keine anhaltende psychische Beeinträchtigung erlitten. Das Bundesgericht hält aber auch fest: «Er musste mehrere Stunden zusehen, wie seiner schwangeren, schmerzgeplagten Ehefrau keine Hilfe gewährt wurde und seine Bemühungen, die Grenzwächter zur Unterstützung zu bewegen, blieben wirkungslos.»
Das Schicksal schlug am Nachmittag des 4. Juli 2014 zu. Die damals 22-jährige Frau aus Syrien litt unter starken Schmerzen, als sie zum Grenzwachtposten in Brig gebracht wurde. Sie war in der 27. Woche schwanger, spürte Wehen. Der Einsatzleiter der Grenzwacht liess ihren Gatten abblitzen. Er sei selber dafür verantwortlich, wenn er mit seiner Frau eine solche Reise auf sich nehme. Die syrische Familie wollte mit ihren drei Söhnen von Italien nach Deutschland fahren, wurde aber an der Grenze gestoppt.
Der Ehemann half, seine Gattin in den Zug nach Domodossola zu tragen. Die Grenzwacht informierte die italienischen Behörden über die Ankunft einer Frau mit medizinischen Problemen. Eine Ambulanz brachte sie in ein italienisches Spital. Um 18:30 Uhr stellten Ärzte den Tod des ungeborenen Mädchens fest. Nach der Spontangeburt blieb die Frau vier Tage im Spital. Der «Blick» sprach von der «Schande von Brig».
In der Folge lebte die Familie mit ihren Kindern als Asylsuchende in Italien. Zwei Jahre später reiste die Mutter mit den Söhnen nach Deutschland, wo sie 2018 ein definitives Aufenthaltsrecht erhielten. Im März 2021 durfte der Ehemann nachziehen.
Nach dem Drama reichte die Familie im Juli beim Eidgenössischen Finanzdepartement eine Staatshaftungsklage ein und forderte insgesamt 885’000 Franken Genugtuung.
Gericht verurteilt Einsatzleiter
Im November 2018 verurteilte ein Militärgericht – es ist für die Grenzwache zuständig – den Einsatzleiter wegen einfachen und fahrlässigen Körperverletzung sowie Nichtbefolgen der Dienstvorschriften zu einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 150 Franken. Von weiteren Vorwürfen wie der versuchten vorsätzlichen Tötung oder des versuchten Schwangerschaftsabbruchs wurde er freigesprochen. Der Gerichtspräsident sagte, das Problem liege wohl in der Routine: Es könne sein, dass ein Grenzwächter 99 Mal angelogen werde. Und doch müsse er die hundertste Person fair und mit Respekt behandeln.
Gemäss einem medizinischen Gutachten der Universität Bern schwebte die Mutter nicht in Lebensgefahr. Es war auch nicht möglich festzustellen, ob das Kind bei der Ankunft in Brig um 14:20 noch gelebt hatte.
Nach dem Gerichtsurteil reduzierte die Familie die Genugtuungsforderung auf 159’000 Franken für alle Familienmitglieder. Dazu kam jetzt aber neu eine Forderung nach knapp 138’000 Franken Schadenersatz. Die Begründung: Wegen der Schweizer Grenzwacht wurde die Familie gezwungen, ihr Asylgesuch in Italien zu stellen. Sie habe dort so viel in etwa drei Jahren weniger staatliche Unterstützung erhalten, als ihr in Deutschland zugestanden wäre. Das Bundesgericht entschied aber: Zwischen dem Verhalten der Grenzwacht und dem Asylverfahren in Italien besteht kein Kausalzusammenhang. Verantwortlich für ein Asylgesuch im Schengen/Dublin-Raum ist jener Staat, in den sich Geflüchtete zuerst begeben.
Und die Genugtuungsforderung? Das Bundesverwaltungsgericht sprach der Ehefrau 12’000 Franken zu, dem Mann und den drei Söhnen gar nichts. Die Nichtleistung an den Gatten hat das Bundesgericht nun korrigiert. Von den ursprünglich verlangten 885’000 Franken erhält die Familie damit bloss einen Bruchteil. Die Details in den Rechtsverfahren überliess die Familie den Anwälten. Der Ehemann sagte gegenüber CH Media Anfang 2022: «Eigentlich wäre das ganze Geld der Welt nicht genug für den Verlust unserer Tochter.»