Vercoacht? Nein! Der FC Aarau verliert gegen Schaffhausen, weil er den Gegner zum Toreschiessen einlädt
«Vercoacht!» Das Wort fiel oft gegen Ende des FCA-Heimspiels gegen Schaffhausen, nach dem Schlusspfiff hatte es in den Fachsimpeleien der über 4000 Zuschauer im Brügglifeld gar Hochkunjunktur. Das Wort lässt es erahnen: Die Kritik nach der spektakulären 3:4-Niederlage zielt von vielen Seiten auf Aarau-Chefcoach Stephan Keller.
Primär gilt es festzuhalten: Der FC Aarau hat gegen Schaffhausen nach zehn Spielen ohne Niederlage erstmals wieder ein solches verloren. Er ist immer noch Tabellenführer und hat immer noch fünf Punkte Vorsprung, weil Verfolger Winterthur am 25. Spieltag ebenfalls gepatzt hat, 1:3 auswärts gegen Stade Lausanne-Ouchy. Und nicht zuletzt war das Spiel gegen Schaffhausen pures Entertainment – kein unwichtiger Faktor im Unterhaltungsbusiness «Profifussball».
Die Fakten liefern also keine Nahrung für generelle Kritik. Doch wer sich mit der Materie beschäftigt, weiss und muss zugeben: Die Momentaufnahme hat im Fussball viel Gewicht, unmittelbar nach einem Spiel geht der Blick aufs Ganze gerne verloren. Und darum heisst es in den Beizen und in den Onlinekommentaren nach dem Schaffhausen nicht: «Dank Keller ist der FC Aarau souveräner Tabellenführer.» Sondern: «Keller hat grossen Anteil an der Niederlage gegen Schaffhausen.»
Startelf-Debütant Avdyli: Ansporn für die anderen Reservisten
Klar – der Trainer bot mit seiner Personalwahl Angriffsfläche: Er nominiert in der Startelf anstelle des leicht angeschlagenen Donat Rrudhani den 19-jährigen Milot Avdyli. Für diesen ist es der erste Liga-Startelfeinsatz überhaupt, seit er im Januar 2020 aus der Heimat zum FC Aarau transferiert worden ist.
Nach wackligem Start liefert er gegen Schaffhausen die eine oder andere Kostprobe seines Talents und ist mit einer punktgenauen Eckball-Flanke Vorbereiter des Ausgleichstreffers zum 1:1 durch Gashi. «Milot hat sich seinen Einsatz durch seine Trainingsleistungen mehr als verdient. Es ist auch ein Zeichen an die Spieler auf der Bank, dass sie Chancen erhalten, wenn sie gut trainieren, machen was wir fordern und positiv sind», begründet Keller seine Wahl.
Nach 54 Minuten wird Avdyli ausgewechselt, für ihn kommt Liridon Balaj. Jener Balaj, der von aussen betrachtet erster Anwärter für die Stellvertretung zu sein schien, sollte einer vom Flügelduo Rrudhani/Spadanuda ausfallen. Umso mehr nach Balajs gelungenen Auftritten als Joker in den vergangenen Wochen. Auch nach der Einwechslung gegen Schaffhausen ist er auffälligster FCA-Spieler auf dem Feld und erzielt in der 60. Minute das Tor zum zwischenzeitlichen 2:3, das die Hoffnung auf einen Punktgewinn wieder aufleben lässt.
Aber Balaj, das wird immer offensichtlicher, scheint bei Keller einen schweren Stand zu haben – oder er ist als Joker einfach zu gut, als dass der Trainer auf eine solche Alternative auf der Ersatzbank verzichtet.
Auswechslung wäre für Jäckle eine Erlösung gewesen
Kein Startelf-Debütant, sondern ein -Rückkehrer war Olivier Jäckle: Erstmals seit dem 27. November letzten Jahres spielte er von Anfang an – keine leichte Aufgabe für das vieldiskutierte und vielbeobachtete Kluburgestein. Grund: Der etatmässige Sechser Imran Bunjaku merkt beim Aufwärmen, dass ein Einsatz für sein aus den vorherigen Spielen leicht lädiertes Knie zu früh kommt. In der ersten Halbzeit macht Jäckle seine Sache ordentlich, nach dem Seitenwechsel indes steht er neben sich und wirkt zunehmend verunsichert.
Vielleicht wäre es für den Spieler erlösend und für die Chancen der Mannschaft, den Rückstand aufzuholen, förderlicher gewesen, Jäckle auszuwechseln. Andererseits: Auch mit Jäckle auf dem Platz kommt der FC Aarau in der Schlussphase zu zwei hochkarätigen Möglichkeiten zum 4:4-Ausgleichstreffer, nützt sie aber nicht.
Nüchtern betrachtet ist es doch viel eher so: Die vier Gegentore, allesamt erzielt vom Liga-Toptorjäger Joaquin Ardaiz, basieren auf krassen individuellen Fehlern – begangen von Stammspielern aus der jüngsten Siegesserie. Beim ersten Gegentor schlafen ausnahmslos alle Feldspieler, während sich die Gäste im Anschluss an einen Eckball mit Flachpässen (!) vors FCA-Tor kombinieren.
Vor dem 1:2 spielt Allen Njie im Vorwärtsgang einen schlampigen Pass in die Füsse eines Schaffhausers, was den Gegenstoss auslöst, den Ardaiz herrlich vollendet – nachdem ihm die zuletzt so stabilen und kaum bezwingbaren FCA-Innenverteidiger Cvetkovic und Bergsma Spalier gestanden sind.
Das Duo macht auch beim 1:3 kurz nach der Pause keine gute Figur, beide sind sowohl beim letzten Pass und dann beim Torschuss nicht zur Stelle – kommt dazu, dass Goalie Simon Enzler an einem guten Tag diesen Schuss wohl hält. Und dann ist es erneut Cvetkovic, der in der 73. Minute im eigenen Strafraum ohne Not zu Boden geht und so Gjorgjev berührt, der die Einladung zum Sturz mit anschliessendem Penaltypfiff noch so gerne annimmt.
Was auch aufgefallen bzw. eine Lehre der vergangenen drei Spiele ist: Der FC Wil und Schaffhausen hatten den Mut, die Aarauer bei deren Spielaufbau früh zu stören – was sich als momentan einzig richtiges Mittel herausstellte, dem FCA Probleme zu bereiten. Beim Auswärtsspiel in Vaduz hingegen agierten die Liechtensteiner erstaunlich passiv und zerbrachen so unter der drückenden Überlegenheit der Aarauer.
Nochmals zu den mathematischen Folgen der Niederlage: Negative Folgen in der Tabelle hat sie keine, trotzdem ist sie ärgerlich, weil ein Sieg des FC Aarau auch gegen dieses starke Schaffhausen möglich gewesen wäre, die Mannschaft letztlich aber wegen der vielen begangenen Fehler selber schuld ist, die Chance, an der Tabellenspitze auf acht Punkte davonzuziehen, nicht genutzt zu haben.
Indes: Der Spielplan ermöglicht es dem FCA bereits am kommenden Freitag, ebendiese acht Punkte Distanz zwischen sich und den FC Winterthur zu legen – im Direktduell auf der Schützenwiese. Bei einer Niederlage hingegen würde das Gedränge im oberen Tabellendrittel wieder so gross wie zu Beginn der Rückrunde.