Sie sind hier: Home > Schweiz > Umstrittenes Notrecht: So rüstet sich der Bundesrat für die Zukunft – Experten lassen kein gutes Haar an Bericht

Umstrittenes Notrecht: So rüstet sich der Bundesrat für die Zukunft – Experten lassen kein gutes Haar an Bericht

Gleich mehrfach griff der Bundesrat in vergangenen Krisen zum Notrecht. Nun zeigt ein Bericht: Das war gerechtfertigt. Aber nicht unproblematisch. Die grenzwertigsten Punkte in der Übersicht.

Noch bleiben den «Freunden der Verfassung» ein paar Tage Zeit, um die notwendigen 100’000 Unterschriften für ihre «Aufarbeitungsinitiative» zu sammeln. Deren Ziel: eine unabhängige Untersuchung über die Hintergründe der Coronapandemie. Nebst der Wirksamkeit der Covid-Tests und -Impfungen soll dabei auch die Anwendung des Notrechts durch den Bundesrat in der Pandemie kritisch aufgearbeitet werden.

Wer diese Aufarbeitung schneller (und erst noch ohne Volksabstimmung) will, der kannseit kurzem auf der Website des Bundes den 110 Seiten dicken Bericht zur Anwendung des Notrechts lesen. Allerdings geht es dabeinicht nur um Notrecht in der Pandemie, sondern auch in weiteren Krisen der Schweiz in jüngerer Zeit – von der UBS-Rettung über den Axpo-Rettungsschirm bis zur Credit-Suisse-Not-Übernahme durch die UBS.

Sind die Interessen des Landes in Gefahr, oder drohen schwere Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, kann der Bundesrat mittels Notrecht das Heft nämlich an sich reissen. Er regiert dann per Notverordnung oder Notverfügung. Parlament und Kantone haben – zumindest vorläufig – nichts mehr zu sagen.

Ist der Bundesrat zu mächtig?

Dem Bundesrat stehe «genügend Spielraum zu, um effektiv auf Krisen reagieren zu können», hält dieser in seinem kürzlich verabschiedeten Bericht fest. Allerdings kommt die Arbeitsgruppe, die den Bericht für die Landesregierung erarbeitet hat, auch zum Schluss: Notrecht darf nur angewandt werden, wenn die «Systemrelevanz des Schutzgutes» in Gefahr ist. Sind jedoch alleine Leib, Leben oder Freiheit bedroht, reicht das nicht.

Oder zugespitzt:«Nur im absoluten Ausnahmefall» dürfe der Bundesrat zum Notrecht greifen, folgern Carl Jauslin und Marc Schinzel in einem auf De Facto publizierten Aufsatz. Sie tun darin zwar ihre persönliche Sicht kund, als Mitarbeitende des Bundesamts für Justiz (BJ) sind die beiden Juristen aber die Köpfe hinter dem bundesrätlichen Bericht.

Die bisherigen Notrecht-Krisen sind am Ende bislang zwar alle gut ausgegangen. Dennoch macht der Bericht klar: Es gibt Verbesserungspotenzial. Auch wenn man dieses bisweilen zwischen den Zeilen suchen muss.

Öffentlichkeit nicht ausschalten!

Namentlich das Recht auf Zugang zu amtlichen Entscheiden hat der Bundesrat bisweilen strapaziert. Oder er ist – je nach Lesart des Berichts – auch mal darüber hinausgeschossen.

Ob bei den Geheim-Verträgen zur Beschaffung der Corona-Impfungen, bei der Axpo-Rettung oder derNot-Übernahme der Credit Suisse durch die UBS: Wiederholt habe der Bundesrat den Transparenz-Grundsatz geritzt respektive ein vom Parlament gewolltes Instrument zur Kontrolle der Verwaltung durch die Bürgerohne Not übermässig eingeschränkt.

Auch bei der UBS-CS-Notübernahme im März 2023 hat der Bundesrat die Transparenz eingeschränkt – doch erst hier regte sich in der Politik Widerstand. In diesem Fall federführend beim Notrecht: Finanzministerin Keller-Sutter (3. von links).
Bild: Keystone

«Bemerkenswert» laut dem Bericht ist insbesondere, dass beimAxpo-Rettungsschirm der Ausschluss des Öffentlichkeitsprinzips aus dem Notrecht am Ende eins zu eins in geltendes Recht überführt wurde. In der Politik sollte diese Geheimniskrämerei jedoch erst später, bei der UBS-CS-Notübernahme, für Aufruhr sorgen. Der Bericht ist damit auch Wasser auf die Mühlen des Datenschützers des Bundes, der diese Einschränkung stets unmissverständlich kritisiert hatte.

Dabei wäre das Öffentlichkeitsprinzip laut dem Bericht gerade «in Krisensituationen besonders wichtig» für das Vertrauen der Öffentlichkeit in ihre Behörde. Dies, weil dabei die Bürger mit ihren Anfragen an die Behörden bestimmen, worüber und wie detailliert informiert wird.

Kritik am Aufarbeitungsbericht

Liest man den ganzen Bericht durch, so wird klar: Nebst der einigermassen wohlwollenden Innensicht der Arbeitsgruppe und des Bundesrats selbst gibt es von aussenstehenden Experten auch Zweifel oder gar offene Kritik am Gebaren der Landesregierung in den vergangenen Notrechts-Krisen.

Nebst einer internen Begleitgruppe haben die Verfasser des bundesrätlichen Berichts zur Anwendung des Notrechts in drei Sitzungen nämlich auch aussenstehende Experten angehört. Die Sicht der fünf Rechtsexperten auf das jeweilige Kapitel wird jeweils ebenfalls transparent dargelegt.

Dabei fällt auf: Die Aussensicht auf das Handeln des Bundesrats ist praktisch in jedem Abschnitt kritischer als die Innensicht der Verwaltung.

Einerseits kritisieren die externen Experten fest: Die Verfassungsgrundlage, worauf sich die Landesregierung beim Notrecht stützte, sei nicht mehr zeitgemäss.

Andererseits müsse präzisiert werden, wie der Bundesrat Notrecht überhaupt erst ausrufen darf. Klärung brauche es auch in der Frage, wie er später wieder in den Normalzustand zurückkehrt.

Umstritten in der Expertengruppe (wie auch in der Rechtswissenschaft) ist derweil, ob sich der Bundesrat in einer Notsituation auch über geltendes Recht stellen darf. Und das sogar, wenn ein Gesetz explizit für den Notfall gedacht ist.nnDie Mehrheit der Experten – wie auch das Bundesamt für Justiz und das Bundesgericht – erachten dies als zulässig, ja sogar als zwingend. Dies allerdings nur, wenn es sich wirklich um eine unvorhersehbare Krise handle. Einziges Tabu: Menschenrechte zu einzuschränken.

GegenüberRadio SRF kritisierte Expertengruppen-Mitglied Eva Maria Belser den Bericht generell als regierungs- und verwaltungsfreundlich.

Zudem steht laut der Freiburger Rechtsprofessorin die grundsätzliche Frage im Raum, ob es «eigentlich richtig ist» sei, dass «der Bundesrat selbst entscheidet, ob eine notrechtliche Situation gegeben ist und sich dadurch ja selbst ermächtigt».

Das wären mögliche Alternativen

Eva Maria Belser hätte sich beispielsweise vorstellen können, dass weitere Kreise bei der Ausrufung von Notrecht einbezogen werden. Zur Debatte standen laut dem Bericht das Parlament oder das Bundesgericht. Letzteres allerdings nur konsultativ, um mögliche Konflikte in der Gewaltentrennung zu verhindern. Denn ein Verfassungsgericht kennt die Schweiz ja nicht.

Gerade mit Blick auf die Coronapandemie kommt der Bundesrat in seinem Bericht allerdings zum Schluss, dass der Einbezug des Parlaments zu Beginn «keine realistische Option gewesen» sei. Von einem «Eilverfahren» für Notrecht, wie dies der Rechtsstaat beispielsweise bei der Überprüfung von fürsorgerischen Freiheitsentzügen oder der Anordnung von Untersuchungshaft kennt, will der Bundesrat nichts wissen.

Einig sind sich die Experten und die Fachleute des Bundes jedoch darin, dass die Position des Bundesamts für Justiz bei der Anwendung von Notrecht gestärkt werden soll. Zudem fordert die Expertengruppe, dass zur Stärkung der Akzeptanz des Notrechts die Prüfungsergebnisse des BJ jeweils veröffentlicht werden sollen.

So will der Bundesrat auf den Bericht reagieren

Bereits vor der politischen Sommerpause reagiert hat der Bundesrat. Wie er in einer Mitteilung zum Bericht schreibt, will er in den Grundzügen zwar an der bisherigen Notrecht-Handhabung festhalten. Sprich: Er will auch künftig in Eigenregie Notverordnungen erlassen dürfen, um die Interessen des Landes zu wahren oder um auf bereits eingetretene oder drohende schwere Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu reagieren.

Allerdings zeigt sich die Landesregierung offen, über die Anwendung des Notrechts gegenüber der Öffentlichkeit aktiver zu kommunizieren und seine Verordnungen einfacher zugänglich zu machen. Zudem soll das Bundesamt für Justiz bereits bis Ende kommenden Jahres ein Prüfschema für die rechtliche Begründung von Notverordnungen erarbeiten.

Der Bericht geht übrigens zurück auf Vorstösse aus der nationalrätlichen Rechtskommission und dem heutigen Schwyzer Ständerat Pirmin Schwander (SVP). Zudem hat auch die Staatspolitische Kommission des Nationalrats Präzisierungen des Notrechts verlangt, um die Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessern. Das Parlament hatte zu Beginn der Coronapandemie ja die Session abgebrochen und sich damit selbst aus dem Spiel genommen.

Wem das alles noch nicht Aufarbeitung genug ist, der muss sich sputen, die viel weitergehende «Aufarbeitungsinitiative» der «Freunde der Verfassung» noch zu unterzeichnen. Allerdings scheint das Interesse dafür selbst bei den Mitgliedern der Massnahmenkritikern inzwischen nur noch mässig zu ziehen. Jedenfalls war kürzlich in ihrem Newsletter zu lesen, das Ziel von 100’000 gültigen Unterschriften sei «ziemlich weit weg».