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«Der Typ hat einfach ihre Nacktbilder gepostet»: Immer mehr Jugendliche werden online erpresst

Jugendliche und Kinder sind die häufigsten Opfer von Cyber-Sexualdelikten. Diese Straftaten nehmen ständig zu, vor allem die Erpressung mit echten oder mit KI-verfälschten intimen Fotos und Videos.

Mia* hat schon lange aufgehört zu zählen, wie viele Dickpics ihr bereits in den sozialen Medien wie Instagram oder Snapchat ungefragt zugeschickt wurden. Doch sie erinnert sich noch, in welchem Alter es angefangen hat: «Als ich 13 Jahre alt war», sagt sie zu watson.

Heute ist sie 17 Jahre alt und weiss aus eigener Erfahrung und von ihren Freundinnen, wie schnell man Opfer von Cyber-Sexualdelikten werden kann. Einmal wurde Mia von ihrem Ex-Freund bei sexuellen Handlungen gefilmt, obwohl sie nichts davon wusste. Sie erfuhr es erst, als er ihr ein paar Tage später das Video ungefragt schickte.

Bis heute weiss sie nicht, was er damit gemacht hat. Aus Angst traute sie sich nicht, etwas dagegen zu machen. Denn es könnte sie ja noch schlimmer treffen – wie es eine ihrer Freundinnen erlebt hat.

«Eine Freundin hat einem Typen, dem sie vertraut hat, Nacktbilder geschickt. Als sie sich einmal gestritten haben, hat er einfach ihre Nacktbilder in seinen Instagram- und Snapchat-Stories gepostet», sagt Mia. Eine Welt sei damals für ihre Freundin zusammengebrochen. Sie hatte Angst, von anderen dafür verurteilt zu werden.

Sextortion nimmt zu

Frauen wie Mia oder ihre Freundin sind mit ihren Erfahrungen und Ängsten nicht alleine. 2611 Cyber-Sexualdelikte wurden 2023 durch die Kriminalstatistik schweizweit erfasst, 85 Prozent der Opfer sind unter 20 Jahre alt. Die Dunkelziffer muss ein Vielfaches höher sein: Gemäss der James-Studie 2022 der ZHAW wurde jeder zweite Teenager bereits einmal online sexuell belästigt.

Auch der Bundesrat erkennt das zunehmende Problem: Im Januar 2023 hielt er in einem Bericht fest, dass Cyber-Sexualdelikte besser erfasst werden müssen und diverse Aufklärungs-Massnahmen folgen sollen – im Rahmen der nationalen Plattform «Jugend und Medien» des Bundesamtes für Sozialversicherungen.

Seit Montag läuft nun die erste nationale Sensibilisierungskampagne von Kinderschutz Schweiz in Zusammenarbeit mit «Jugend und Medien», der Schweizerischen Kriminalprävention SKP und weiteren Partnern. Unter dem Motto «Was du online teilst, teilst du mit allen. Schütze, was dir wichtig ist.» setzen sich die beteiligten Akteure gemeinsam dafür ein, dass Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt online geschützt werden.

Die Sensibilisierungskampagne und die dazugehörigen Massnahmen wurden für einen Zeitraum von drei Jahren entwickelt. 2024 dreht sich die Kampagne um das Thema Sextortion und durch künstliche Intelligenz veränderte Bilder. Straftaten, die zunehmen.

Laut der Beratungs- und Meldestelle clickandstop.ch, ein Gemeinschaftsprojekt von Kinderschutz Schweiz und der Guido Fluri Stiftung, macht Sextortion bereits «fast die Hälfte aller Beratungsgespräche» aus. Sextortion bedeutet, dass Täter ihre Opfer mit der Veröffentlichung von intimen Fotos und Videos erpressen – meistens mit Geldforderungen.

«Diese Problematik wird heute verschärft durch künstliche Intelligenz, mit der Erpresser leicht und schnell harmlose Alltagsbilder in sexuelle Bilder verwandeln können», sagt Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz zu watson. Auch in den Beratungsgesprächen würden solche KI-Fälle immer häufiger vorkommen.

Setzt sich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Netz ein: Regula Bernhard Hug.
Bild: kinderschutz.ch

Bilder im Netz löschen

Die durch künstliche Intelligenz erstellten intimen Bilder seien dabei so realistisch, dass Angehörige oft nicht merken, dass diese nicht real seien. So sei etwa einem Vater pornografisches Bild- und Videomaterial seiner Tochter zugesendet worden.

«Die Täter haben ihn erpresst, dass sie die Bilder seiner Tochter veröffentlichen würden, wenn er kein Geld zahlt. Doch was der Vater nicht wusste, war, dass die Bilder durch eine KI verfälscht und erstellt wurden», sagt Bernhard Hug. Das Gesicht habe man von Fotos der Tochter in den sozialen Medien geklaut, den nackten Körper mit KI geschaffen. Das Erpressungsmaterial stellte also eine Szene dar, die es so nie gab.

«Die Chance, die Täterinnen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist relativ gering.»

In diesen Fällen rät Bernhard Hug, sich sofort an die Polizei zu wenden. «Viele Menschen bezahlen im Affekt die Geldbeträge. Doch die Täter werden nie aufhören und immer neue Geldforderungen und Drohungen aussprechen – bis man zur Polizei geht.» Ratsam sei, die Kontakte auf allen Kanälen zu blockieren, aber Beweise wie Chatverläufe sicherzustellen für die Polizei. Dasselbe gelte auch bei nicht KI-erstellten intimen Fotos oder Videos.

Um Nacktfotos aus dem Netz zu löschen oder eine Weiterverbreitung zu verhindern, arbeite die Polizei mit Fernmeldeanbietern zusammen, sagt Bernhard Hug. Minderjährige Betroffene hätten zudem die Möglichkeit, sich an die gemeinnützige Organisation National Center for Missing & Exploited Children zu wenden. Auf ihrer Website Takeitdown.ncmec.org können Betroffene einen Online-Dienst nutzen.

Bei diesem Hilfe-Tool wählen Opfer ihre Bilder oder Videos aus, mit denen sie erpresst werden. Die Website lädt diese Dateien jedoch nicht hoch – sie bleiben auf dem Gerät der Betroffenen –, sondern sie erstellt einen digitalen Fussabdruck, eine Art Code, der mit sicheren Online-Plattformen geteilt wird. Sollte dann eine Website oder App entdecken, dass der Code identisch ist mit einem Bild oder Video, dass auf der Applikation hochgeladen wurde, können sie die Veröffentlichung unterbinden oder den Post löschen.

Erfolgsaussichten gegen Täter

Mias Freundin ging zur Polizei und erstattete Anzeige, weil ihr Ex ihre Nacktbilder in den sozialen Medien gepostet hatte. «Es gab ein Verfahren und der Typ wurde verurteilt. Auch ihre Fotos musste er löschen», sagt sie. Oftmals kommt es jedoch nicht so weit.

«Die Chance, die Täterinnen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen und bereits bezahlte Geldbeträge zurückzuerhalten, ist relativ gering», schreibt die Schweizerische Kriminalprävention (SKP) auf der Website. Trotzdem solle man alle Cyber-Sexualdelikte zur Anzeige bringen. Die SKP schreibt:

«Nur so erhält die Polizei Informationen zum Ausmass des Deliktfeldes, kann Zusammenhänge herstellen und allenfalls Ermittlungsmöglichkeiten finden. Überwinden Sie Ihre Scham und machen Sie sich bewusst: Die Polizei ahndet Verbrechen, keine menschlichen Schwächen!»

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