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Diskriminierung? Warum an Aargauer Gemeindeversammlungen weniger eingebürgert wird

Wo Einwohnerinnen und Einwohner direkt über Einbürgerungen entscheiden dürfen, gibt es ein grösseres Risiko für Diskriminierung. «Will man dies verhindern, sollte an Gemeindeversammlungen nicht mehr über individuelle Einbürgerungen entschieden werden», sagt Politanalyst Dominik Hangartner von der ETH Zürich.

Ortschaften, die mit Hilfe von Gemeindeversammlungen über Einbürgerungsgesuche entscheiden, bürgern signifikant weniger Menschen ein als Gemeinden mit Gremien oder Kommissionen. Dies zeigt eine Datenanalyse zu Einbürgerungszahlen auf Gemeindeebene der vergangenen zehn Jahre. In Zahlen ausgedrückt: Gemeinden mit Einbürgerungsgremien oder Kommissionen im Kanton Aargau bürgern pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner rund 18 Personen mehr ein als jene mit Gemeindeversammlungen.

Diskriminierende Gemeindeversammlungen

Dominik Hangartner, Professor für Politikanalyse an der ETH Zürich.
pd

Dass es einen Unterschied in den Einbürgerungszahlen zwischen den Gemeinden gibt, ist unbestritten. Doch was sind die Ursachen dafür? «Neben zahlreichen anderen Faktoren auch Diskriminierung», sagt Dominik Hangartner von der ETH Zürich. Der Professor für Politikanalyse hat mehrere Untersuchungen zum Thema Einbürgerungen und direkte Demokratie durchgeführt. Dass es immer Diskriminierung sei, stimme natürlich nicht für den Einzelfall, grundsätzlich habe die Schweiz aber mit ihren direktdemokratischen Einbürgerungsinstrumenten ein System, welches spezifische Bevölkerungsgruppen benachteiligen kann. Auf Basis der Resultate seiner Untersuchungen sagt Hangartner:

«Will man Diskriminierung bei der Vergabe des Schweizer Passes verhindern, sollte an Gemeindeversammlungen nicht mehr über individuelle Einbürgerungen entschieden werden.»

60 Prozent mehr Einbürgerungen ohne Gemeindeversammlung

Im Nachgang weitreichender Urteile des Bundesgerichts im Jahr 2003 über abgelehnte Einbürgerungen an Gemeindeversammlungen, haben zahlreiche Gemeinden die Entscheidungsgewalt über Einbürgerungsgesuche den Bürgerversammlungen weggenommen und an ihre gewählten Gemeinderäte übertragen.

Dies nutzte Hangartner für ein «natürliches Experiment» und untersuchte die Einbürgerungszahlen in über 1400 solcher Gemeinden in einem Zeitraum von 1991 und 2009. Dabei hat er festgestellt, dass bei diesen Gemeinden die Einbürgerungsrate um beinahe 60 Prozent angestiegen ist, als nicht mehr Bürgerinnen und Bürger, sondern eigens dafür geschaffene Gremien oder Kommissionen über den Schweizer Pass entscheiden konnten.

Dieser Anstieg sei zudem nicht für alle Nationalitäten gleich ausgefallen. Hangartner sagt: «Menschen mit bestimmten Staatsangehörigkeiten haben vom Wechsel von direkter zu repräsentativer Einbürgerungs-Demokratie besonders profitiert. Dazu zählen zum Beispiel Menschen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien.»

Dass es sich bei den zuvor abgelehnten Einbürgerungsgesuchen um Diskriminierung handelt und diese nicht auf andere Gründe zurückgeführt werden können, zeigt sich, wenn die Nationalitäten der Antragstellenden betrachtet werden:

«Der Anteil Nein-Stimmen ist in Urnenabstimmungen für Personen aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien 40 Prozent höher als für eine gleich gut qualifizierte Person aus einem nord- oder westeuropäischen Land», sagt Hangartner. Erlaubte Kriterien, wie beispielsweise die Sprachkenntnisse oder wie stark die Person integriert ist, hätten dagegen fast keinen Einfluss auf den Ausgang der Einbürgerungsabstimmungen gehabt.

Politiker müssen begründen

Als Erklärung für das grössere Risiko von Diskriminierungen bei Urnenabstimmungen nennt Hangartner zwei Gründe: «Zum einen müssen Bürgerinnen und Bürger bei einer Urnenabstimmung keine Begründungen für eine willkürliche Ablehnung eines Antrags liefern.» Politiker hingegen seien gezwungen, eine Ablehnung formal zu begründen, um den Antragstellern eine Rekursmöglichkeit zu geben.

«Zum anderen haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Bürgerversammlung nicht genügend Informationen über den Antragssteller oder die Antragsstellerin, um objektiv über die jeweilige Einbürgerung zu entscheiden.» Detaillierte Informationen über den Integrationsgrad oder die finanziellen Verhältnisse müssten vorgängig der gesamten Gemeinde zugänglich gemacht werden, was wiederum in Sachen Datenschutz problematisch sein kann. Hangarter sagt weiter:

«Dieses Fehlen an relevanten Informationen führt dazu, dass sich der Einbürgerungsentscheid bei einer Gemeindeversammlung oder einer Urnenabstimmung auch auf das Bauchgefühl stützt.»

Und genau dieses Bauchgefühl kann zu stereotypisierenden Zuschreibungen und Diskriminierung führen.

Für weitere Indikatoren, wie etwa dem SVP-Wähleranteil, besteht kein untersuchter statistischer Zusammenhang. Betrachtet man die zehn Aargauer Gemeinden mit dem höchsten SVP-Wähleranteil, dann befinden sich darunter auch vier, die in der Rangliste der Gemeinden auftauchen, die am wenigsten einbürgern. Aber um statistisch relevante Aussagen machen zu können, müssten auch die abgelehnten Einbürgerungsgesuche bekannt sein, und die werden vom BFS nicht erfasst. Ähnlich sieht es bei der Sozialhilfequote und beim Ausländeranteil aus.

Im Aargau gibt es prominente Beispiele

Im Aargau hat insbesondere der Fall von Funda Yilmaz, deren Einbürgerungsgesuch im Einwohnerrat Buchs im zweiten Anlauf gutgeheissen wurde, international für Schlagzeilen gesorgt. Und dieser Fall zeigt, dass auch eine Kommission keinen garantierten Schutz vor Diskriminierung bietet: Der Einwohnerrat verwehrte Yilmaz im Juni 2017 den roten Pass auf Antrag der Einbürgerungskommission. Diese hatte die Türkin nach zwei Gesprächen als zu wenig integriert beurteilte, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen war und den Staatskundetest fehlerfrei bestanden hat.

Nachdem Yilmaz beim Regierungsrat Beschwerde gegen ihre Nicht-Einbürgerung eingereicht hatte, kam der Gemeinderat einem Entscheid aus Aarau zuvor und beantragte dem Einwohnerrat, die Türkin nun doch einzubürgern. Dies aufgrund neuer Informationen, die durch die Berichterstattung zum Vorschein gekommen seien.

Öffentlich diskutiert und kritisiert wurde vor allem Art und Inhalt der Befragung durch die Kommission: Die Einbürgerungswillige nennt als typische Schweizer Sportarten Chlaus-Chlöpfen und Skifahren, die Kommission wollte Schwingen und Hornussen hören. Sie weiss, dass sie das Öl aus der Fritteuse nicht in den Abfluss leeren darf, kann jedoch nicht auswendig sagen, wo es stattdessen hinkommt.

Kontrovers diskutiert wurden auch zwei weitere Einbürgerungen: Aisha Mohammad (50), Pakistanerin aus Erlinsbach – ihr Gesuch wurde von der Gemeindeversammlung insgesamt viermal abgelehnt, im Jahr 2015 erteilte ihr der Regierungsrat das Bürgerrecht. Prominent auch der Fall von Nancy Holten, Holländerin aus Gipf-Oberfrick – ihr Gesuch wurde von der «Gmeind» zweimal klar abgelehnt, im Frühling 2017 erhielt sie von der Kantonsregierung den roten Pass.

Wie viele Menschen sind in Ihrer Gemeinde eingebürgert worden – und woher kommen sie? Finden Sie es heraus in unseren Artikeln zu jeder einzelnen Aargauer Gemeinde: