Es ist Gemeindeversammlung – und keiner geht hin: Wie Gemeinden die «Einschaltquote» erhöhen können
Auch wenn die Emotionen hochgehen und der Saal kocht: Die Gemeindeversammlungen laufen in aller Regel gesittet ab. Das war nicht immer so, bisweilen setzte es auch schon mal eine Prügelei ab.
Legendär ist die «Prügellandsgemeinde» von 1838 in Schwyz. Bereits bei der Wahl der Stimmenzähler gerieten sich die Teilnehmer ein erstes Mal in die Haare. Glück hat also, wer heute Stimmenzählerin oder -zähler an der «Gmeind» ist. Denn das grösste Ungemach in unseren Tagen ist es, sich zu verzählen – und dafür setzt es keine Prügel ab.
Aber es setzt immer wieder Diskussionen ab, ob die Gemeindeversammlung heute noch ein taugliches Mittel für eine demokratische Entscheidfindung ist oder ob sie Schnee von gestern ist.
Als «Klimaforscherin» betätigt sich seit 2009 das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA). Es untersucht wissenschaftlich, wer wie oft an die «Gmeind» geht (oder eben nicht) und wie man die Einschaltquote, die in den meisten Gemeinden im ein- oder niedrigen zweistelligen Bereich dümpelt, erhöhen kann.
Apéros funktionieren, Geschenke nicht
So viel vorweg: Geschenke zu verteilen, wie es einige Gemeinden tun, ist kein gutes Rezept. Denn: «Geschenke wirken sich sogar negativ auf die Beteiligung aus», sagte ZDA-Direktor Daniel Kübler am Donnerstag am Gemeindeseminar. Ein Grund dürfte sein, dass die Stimmberechtigten so das Gefühl haben, man wolle sie kaufen.
Anderes sieht es bei einem Apéro nach der Versammlung aus. Dies hat sogar einen leicht positiven Effekt auf die Motivation teilzunehmen.
Dass es eine Motivationsspritze dringend brauchen könnte, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Die durchschnittliche Beteiligung im Kanton Aargau lag in den vier Jahren (2013–2016), die das ZDA untersuchte, bei gerade einmal neun Prozent. Das heisst: Der grösste Teil lässt sich «vertreten».
Wenn die «Turnhallen-Demokratie» tagt
Nur eben: Während ein Parlament gewählt ist und die Stimmberechtigten recht repräsentativ vertritt, ist dies bei den Gemeindeversammlungen nicht der Fall. Es gehen vor allem ältere Semster hin – das Durchschnittsalter derer, die fast immer teilnehmen, liegt bei 59 Jahren – und es gehen Leute hin, die von einem Geschäft betroffen sind. Nicht umsonst spricht man auch von der «Turnverein-Demokratie».
Geturnt wird dabei in den Gemeinden unterschiedlich. Als Faustregel gilt: Kleine Gemeinden auf dem Land haben eine höhere Zahl Mitturner als grössere Gemeinden. Das Spektrum der durchschnittlichen Beteiligung reicht dabei von 2,3 bis 28,2 Prozent.
Dabei wird die Rechnungsgemeindeversammlung im Sommer deutlich weniger gut besucht als die Budget-«Gmeind». Denn bei Letzterer lässt sich mitbestimmen, wofür das Geld ausgegeben ist – bei der Rechnungs-«Gmeind» ist das Geld schon weg.
Ob man hingeht, hängt auch von Gemeindefaktoren ab. Die Forscher haben festgestellt, dass sich beispielsweise eine florierende Wirtschaft im Dorf negativ auf Beteiligungsquote auswirkt.
Fusionen locken viele an
Die Beteiligung hängt zugleich von den Geschäften ab. Spitzenwerte werden bei Fusionen erreicht, aber auch eine Steuerfusserhöhung oder eine Einzonung wie jüngst in Magden locken viele in den Saal. Eine gute Einschaltquote versprechen zudem Versammlungen, in denen es um Parkplätze geht. Kurz: Je höher die Betroffenheit, desto höher die Beteiligung.
Diskutiert wird an den Versammlungen indes eher wenig. 68,8 Prozent der Geschäfte passieren ohne eine einzige Wortmeldung, 92,1 Prozent mit weniger als fünf Wortmeldungen. Nur in 2,5 Prozent der Geschäfte wird ein Rückweisungsantrag gestellt, 98 Prozent werden in der Schlussabstimmung angenommen. Kübler dazu:
«Wenn nicht diskutiert wird, heisst das, dass der Gemeinderat gut antizipieren kann, was die Gemeinde will.»
Doch wer nimmt teil? Dieser Frage spürten die ZDA-Forscher im Kanton Glarus mit einer repräsentativen Befragung nach. 13 Prozent gaben an, (fast) immer teilzunehmen, rund 40 Prozent manchmal – und der grosse Rest geht gar nie.
Dass in der Befragung deutlich mehr Personen angegeben haben, (fast) immer zu gehen, als effektiv gehen, führt Kübler auf den Effekt der «sozialen Erwartbarkeit der Antwort» zurück.
Männer ab dem mittleren Alter nehmen teil
Erwartbar fällt auch das Profil der Teilnehmenden aus: An die «Gmeind» gehen vor allem Männer ab dem mittleren Alter. Viele von ihnen haben Wohneigentum, leben seit langem im Dorf und haben Interesse an der Dorfpolitik. Wer Kinder hat, nimmt dagegen eher weniger teil.
Abgefragt haben die Forscher auch Gegensatzpaare. So sagen jene, die nie teilnehmen, dass sie nicht gerne vor anderen reden. Jene dagegen, die oft oder immer hingehen, haben damit kein Problem. Einig sind sich dagegen alle darin, dass die «Gmeind» ein Gefühl von Gemeinschaft schafft.
Einig sind sich die Befragten auch in einem anderen Punkt: Die Versammlungen sind tendenziell zu lang. Auch das erstaunt nicht – und dürfte ein Grund sein, der einen Teil davon abhält hinzugehen.
Diskussionen sind gut für die Beteiligung
Positiv auf die Motivation teilzunehmen, wirkt sich aus, wenn Familienangehörige oder Freunde mitgehen – und wenn zu erwarten ist, dass auch heftig disputiert wird, man sich am Schluss aber findet. Wenn die Post also im Saal abgeht – und man danach trotzdem miteinander ein Bier trinken kann.
Ein Patentrezept, wie die Gemeinde die Einschaltquote erhöhen kann, konnte Kübler den Gemeindevertreterinnen und -vertretern nicht geben. Seine Empfehlung:
«Diskussionen sollen ermöglicht werden, aber Konfliktsituationen sind zu vermeiden.»
Für wichtig hält er es auch, das Interesse an der Gemeindepolitik früh zu wecken – auch in den Familien. «In der Schweiz haben viele das Gefühl, das Interesse komme dann von alleine. Dem ist nicht so.» Das sei ein Stück weit Knochenarbeit, die zu Hause beginnen müsse. «Es geht darum, den jungen Menschen zu zeigen, weshalb Gemeindepolitik interessant ist.»