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Misstrauensvotum gegen das Parlament: Warum unterstützt der Bund einen Bürgerrat zur Ernährungspolitik?

Während sechs Monaten diskutieren 100 per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger über eine nachhaltige Ernährungspolitik der Schweiz. Resultat der Diskussion sollen Empfehlungen an die institutionelle Politik sein. Finanziert wird das Schattenparlament unter anderem mit Bundesgeldern. Die Empörung in Bundesbern ist gross.

«Dieses Vorgehen ist völlig unverständlich, suspekt und illegitim. Das geht so einfach nicht.» Nationalrat und Biobauer Markus Ritter ist wütend. Die Empörung des Bauernverbandspräsidenten gilt dem sogenannten Bürger- und Bürgerinnenrat für Ernährungspolitik, der am Dienstag den Medien vorgestellt wurde. 100 zufällig per Los ausgewählte Personen aus der ganzen Schweiz sollen bis im Herbst Empfehlungen ausarbeiten für ein «nachhaltiges Schweizer Ernährungssystem». Grundlage für die Diskussion bildet die «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030» des Bundes.

Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030

Der Bundesrat zeigt in der Strategie auf, welche Schwerpunkte er zwischen 2021 und 2030 im Bereich der nachhaltigen Entwicklung setzt:

1. Nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion

2. Klima, Energie und Biodiversität

3. Chancengleichheit und sozialer Zusammenhalt

In diesen drei Bereichen ortet die Regierung grossen Handlungsbedarf über die Departemente und Ämter hinweg. So strebt der Bundesrat beispielsweise an, dass sich bis 2030 der Anteil der Bevölkerung, der unter der nationalen Armutsgrenze lebt, verringern. Zudem will er die negativen Auswirkungen der Nutzung fossiler Energieträger aufzeigen und erklären, wie die Situation durch finanzielle Anreize verbessert werden kann.

In den Diskussionen, die sowohl online als auch physisch zwischen Juni und November stattfinden, soll in Arbeitsgruppen eruiert werden, «wo die Bevölkerung bereit ist, ihr Verhalten anzupassen oder Dinge umzusetzen, die zu einem nachhaltigeren Ernährungssystem beitragen», erklärt Projektleiter Daniel Langmeier von Biovision, der Stiftung für ökologische Entwicklung. Im Zentrum steht die Frage, wie bis 2030 alle Menschen in der Schweiz mit nachhaltigen, gesunden und tierfreundlichen Lebensmitteln unter Berücksichtigung einer fairen Produktion ernährt werden können. Die Ergebnisse sollen im November präsentiert und an einer Tagung im Februar Politik, Verwaltung und Verbänden vorgestellt werden. Ziel ist, dass die Empfehlungen des Bürgerrates Eingang in die institutionelle Politik finden – und dort bestenfalls rasch umgesetzt werden.

Sie sollen die direkte Demokratie noch direkter machen

Doch warum braucht es ein solches Bürgerkomitee? Nenad Stojanovic, Politikwissenschaftler an der Universität Genf, ist der Ansicht, dass Projekte wie der Bürgerinnenrat «existierende Institutionen ergänzen». Damit könne die Demokratie in der Schweiz «noch demokratischer» gemacht werden. Zudem seien solche Bürgerinnenräte repräsentativer als das Parlament – «zumindest im Sinne der Statistik, weil die Auswahl der 100 Personen die Bevölkerung der Schweiz repräsentiert». Das ermögliche offenere Diskussionen, was im Parlament oft schwierig sei, weil die Meinungen im Normalfall schon vor den Debatten gemacht seien.

Das sieht Kilian Baumann ähnlich. Der Grüne-Nationalrat aus dem Kanton Bern unterstützt die Idee des Bürgerrates: «In der Schweiz haben wir – gerade auch im Bereich Ernährung – ein grosses Lobbyproblem. Die Politik entscheidet oft nicht im Sinne der Gesellschaft.» Baumann zeigt sich überzeugt, dass Bürgerkomitees die Arbeit der Politik bereichern können. Das würden diverse Beispiele aus anderen Ländern zeigen, so der Präsident der Kleinbauernvereinigung.

Bürgerrat kostet über 1 Million Franken

Parlamentarierinnen und Parlamentarier können die Schaffung von Bürgerräten hingegen durchaus auch als klares Misstrauensvotum interpretieren: Sie schaffen es nicht, in der von der Gesellschaft erwünschten Geschwindigkeit, Gesetze anzupassen respektive zu erarbeiten, so der Vorwurf.

Markus Ritter sieht das Konzept der Bürgerkomitees «sehr kritisch», wie er auf Anfrage sagt: «Solche Gremien entbehren jeglicher demokratischer Legitimation, wir haben bereits diverse Ämter und Institutionen auf allen Staatsebenen, die solche Themen angehen.» Zudem stehe das demokratische System allen offen, da brauche es keine zusätzlichen Projekte zu Lasten der Staatskasse. Der Mitte-Nationalrat aus dem Kanton St. Gallen kann denn auch nicht verstehen, dass der Bund Projekte wie den Bürgerrat zur Ernährungspolitik finanziell unterstützt.

Im vorliegenden Beispiel fliessen knapp 400’000 Franken Staatsgelder in das Projekt, das von der Stiftung Biovision, dem Verein Landwirtschaft mit Zukunft sowie dem Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen SDSN getragen wird. Am meisten zahlt das Bundesamt für Landwirtschaft mit 200’000 Franken, gefolgt vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen mit 149’000 Franken und dem Bundesamt für Umwelt mit 50’000 Franken. Die Beiträge der Bundesämter decken rund einen Drittel der Gesamtkosten von 1,3 Millionen Franken. Der Rest kommt von Stiftungen und den Trägerorganisationen.

Projekt sei wichtig für den Dialog

Das Bundesamt für Landwirtschaft rechtfertigt seine finanzielle Beteiligung mit der «Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030». Im Auftrag des Bundesrates sei das Bundesamt verpflichtet, Dialoge für ein nachhaltiges Ernährungssystem zu ermöglichen, erklärt Mediensprecher Jonathan Fisch auf Anfrage. Er ergänzt: «Das Ziel des Bundes ist es, die Transformation der Ernährungssysteme in der Schweiz zu unterstützen». Damit die Schweizer Landwirtschaft nachhaltiger werden könne, «müssen die Landwirte und Landwirtinnen wissen, welche Produktionsformen, Produkte und Anbaumethoden in Zukunft gefragt sein werden». Hier leiste das Projekt einen wichtigen Beitrag.

Auf nationaler Ebene hat sich das Parlament eben erst gegen einen ersten, nationalen Bürgerrat ausgesprochen. Konkret lehnte der Nationalrat im Dezember einen Antrag der Grünen ab, 200 Personen per Los für einen Klimarat zu bestimmen. Dieser hätte Lösungen für die Klimakrise finden und sogar solche beschliessen sollen. Das Parlament erachtet dies jedoch als seine eigene Aufgabe.