Bern verbietet Demos, Zürcher Sicherheitsdirektor hält Kundgebung für «fahrlässig» – doch wo bleibt die Meinungsfreiheit?
Es ist ein bemerkenswerter Vorgang: Die Stadt Bern untersagt während mehrerer Wochen alle Demos in der Innenstadt. Auch andere Städte ringen um einen Umgang mit Palästina-Kundgebungen: Sind diese ein Sicherheitsrisiko?
Was hat die Stadt Bern beschlossen?
In der Innenstadt sind vom 17. November bis zum 24. Dezember keine Grosskundgebungen erlaubt. Nur kleinere Kundgebungen wie etwa Mahnwachen sind möglich. Begründet wird der Entscheid damit, dass in der Stadt bereits viel los sei, etwa wegen der Weihnachtsmärkte. Auch «sicherheitsrelevante Überlegungen» werden erwähnt. Zuvor hatte der Sicherheitsdirektor des Kantons Bern, Philippe Müller, in einem Interview mit «Berner Zeitung» und «Bund» dazu aufgerufen, von weiteren Palästina-Demos abzusehen – wegen einer «hohen Wahrscheinlichkeit von Gewalt».
Ist ein solches Verbot rechtlich haltbar?
Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Basel, sagt: «Ich habe grosse Zweifel, dass ein solch generelles Verbot gerechtfertigt ist. Das Bundesgericht hat wiederholt klargemacht, dass ein allgemeines Demonstrationsverbot nur in absoluten Ausnahmesituationen zulässig ist.» Es sei – zumindest aufgrund der öffentlich bekannten Informationen – nicht ersichtlich, dass derzeit eine solche Ausnahmesituation bestehe, die eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit rechtfertige. Die Behörden müssten aus seiner Sicht jedes Bewilligungsgesuch einzeln prüfen.
Dass die Behörden gleich ein generelles Verbot verhängen, sieht Schefer auch als Folge der Corona-Pandemie, in der mehrere Grundrechte eingeschränkt wurden. «Ich habe den Eindruck, dass sich einige zu wenig bewusst sind, wie aussergewöhnlich die Corona-Situation war – und dass es jetzt wieder anders ist.»
Auch die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern erachten das Verbot als «unverhältnismässig und widerrechtlich». Sie überlegen sich, juristisch dagegen vorzugehen. «Wir sind momentan dran, unsere Möglichkeiten zu prüfen», erklärt Geschäftsleiterin Selma Kuratle.
Wie rechtfertigt Bern den Entscheid?
Der Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause betont, der Entscheid sei primär gefallen, weil in der Innenstadt in dieser Zeit mit Weihnachtsmärkten, Lichtspiel, Hochrisiko-Fussballspielen, dem Staatsbesuch des französischen Präsidenten Macron und dem Zibelemärit sehr viel los sei. «Es gibt kein Recht in der Verfassung, jede Woche zum gleichen Thema zu demonstrieren», sagt er. Es habe in Bern bereits drei pro-palästinensische Demonstrationen und zwei pro-israelische Mahnwachen gegeben. «Wir haben also den Tatbeweis erbracht, dass wir der Meinungsäusserungsfreiheit breiten Raum geben.» Zudem sei es kein komplettes Verbot: Mahnwachen seien nach wie vor möglich, auch Gesuche für Demos ausserhalb der Innenstadt würden geprüft.
Wie ist die Situation in anderen grossen Städten?
Die Stadt Zürich hat für nächsten Samstag eine Palästina-Demo bewilligt – was der Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich, Mario Fehr, in einem Interview mit der «NZZ» als «fahrlässig» bezeichnet. Solche Demonstrationen könnten rasch ausarten und seien schwer kontrollierbar.
«Die pro-palästinensischen Demonstrationen werden zunehmend radikalisierter und von Extremisten gekapert», sagt Fehr zu CH Media. Das sehe man, wenn man die vergangenen Demonstrationen analysiere. «Ich will keine deutschen Verhältnisse auf Schweizer Plätzen.» Fehrs Befürchtung: Wegen Demo-Verboten im Ausland könnten Extremisten vermehrt in die Schweiz ausweichen.
Die Stadt Zürich beurteilt die Ausgangslage aber anders. Stadträtin Karin Rykart, Vorsteherin des Sicherheitsdepartements der Stadt Zürich, sagt: «Die Stadt beurteilt Gesuche für Demonstrationen nie nach politischem Inhalt, sondern – innerhalb der rechtlichen Schranken – nach der Sicherheitslage.» Vor zwei Wochen habe in Zürich eine Pro-Palästina-Demo stattgefunden – ohne Zwischenfälle. «Gemäss den Nachrichtendiensten hat sich an der Sicherheitslage in den letzten zwei Wochen nichts geändert.» Deshalb habe man die Demo bewilligt.
In Basel gibt es hingegen ebenfalls Einschränkungen, wie die «bz Basel» berichtete: Es gebe zwar keine Weisung, doch sollen Grossveranstaltungen in der Innenstadt wie die Herbstmesse oder der Weihnachtsmarkt nicht von Demonstrationszügen gestört werden.
Wie schätzt der Nachrichtendienst die Lage ein?
An der Beurteilung der Terrorbedrohung habe sich nichts geändert, heisst es beim Nachrichtendienst des Bundes. Der «offene und massive Gewaltausbruch durch den Anschlag auf Israel» könne allerdings «auch die Sicherheit jüdischer bzw. israelischer Interessen in der Schweiz tangieren».