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Depression jahrelang nur simuliert: 62-Jähriger zu zehn Monaten Gefängnis und Landesverweis verurteilt

Er soll die Invalidenversicherung, das Sozialamt und das Betreibungsamt betrogen und so über Jahre mehrere hunderttausend Franken zu unrecht bezogen haben. Die kantonale Staatsanwaltschaft beantragte, den 62-jährigen Kosovaren, der am Donnerstag vor dem Bezirksgericht Zofingen erschien, zu vier Jahren Gefängnis und 10 Jahren Landesverweis zu verurteilen. Er soll sich nach einer durchgemachten psychischen Erkrankung weiterhin krank gestellt und deshalb IV- und Sozial­hilfebeträge erhalten haben. Als seine Firma Konkurs ging, habe er zudem ein Bankkonto und ein Haus in der alten Heimat nicht angegeben. Die Anklage lautete auf gewerbsmässigen Sozialversicherungsbetrug sowie mehrfachen Pfändungsbetrug.
Was der Mann gemacht hatte, der gekrümmt im Gerichtssaal sass, den Kopf in den Händen vergraben, liess sich anhand von Fotos und anderen Beweisen rekonstruieren. Was aber nur er selber weiss: wie schlecht es ihm tatsächlich über die vergangenen 10 Jahre ging und heute geht.

Psychose während der Militärzeit

Was durch Verteidigung und Staats­anwaltschaft unbestritten war, war eine psychische Erkrankung zwischen 2007 und 2010. Sie wurde diagnostiziert, als Familienmitglieder den Mann, damals in seinen 50ern, wegen Wahnvorstellungen zum Psychiater begleitet hatten. Damals fühlte er sich plötzlich von Leuten aus dem Kosovo und der ehemaligen jugoslawischen Armee überall verfolgt. Zudem zeigte er wahnartige Eifersucht und hatte seine Frau bedroht, die er des Fremdgehens bezichtigte. Er wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, wo eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen diagnostiziert wurde.

Als junger Mann hatte er in den 80er-Jahren seinen Militärdienst in der jugoslawischen Armee geleistet und hatte während dieser Zeit an einer Psychose gelitten. Aufgrund dieser war er sechs Monate im Militärgefängnis. Das Trauma von damals kam wieder hoch, als er bereits in der Schweiz wohnte. Er war 2006 in einem Balkanland in den Ferien, als er glaubte, ein Mann wolle ihn umbringen. Er habe blutige Hände und Augen wie eine Schlange gehabt, sagte er seinem Psychiater in der Schweiz später. Dass ihn jemand oder eine Gruppe von Leuten umbringen, fürchtete er scheinbar ständig. Seine Frau verdächtige er, ihn vergiften zu wollen und drohte ihr deswegen.

Er bekam damals in der Klinik ­Medikamente, unter denen es gemäss Arztbericht fast zu einem vollständigen Abklingen der Krankheitssymptome kam. Nach ein paar Monaten konnte der Patient entlassen werden. Für Staatsanwalt Daniel Albrecht war dies ein Indiz dafür, dass der Gesundheitszustand sich mit Medikamenten bessern konnte und somit nicht über Jahre immer gleich schlecht blieb, wie der ­Beschuldigte im IV-Formular angab. Die Diagnosen des Psychiaters, die die Angaben auf dem Formular bestätigten, stellte der Staatsanwalt in Frage.

Auch im Gerichtssaal erzählte er, er werde verfolgt. Als er einmal hospitalisiert gewesen sei, hätten Männer versucht, von draussen in sein Zimmer einzusteigen. Das habe er an den Taschenlampen gemerkt, mit denen sie herumgefuchtelt hätten. Eigentlich hatte ihm sein Verteidiger zuvor geraten, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, da er nicht in der Lage sei, die Auskunft zu geben, die er geben wollte. Weshalb, das konnte bereits anhand des Berichts der psychiatrischen Sachverständigen erahnt werden. Weil ihr bei der Befragung im Vorfeld des Prozesses gewisse Reaktionen des Beschuldigten nicht geheuer waren, bat sie, die zweite Befragung in einem gesicherten Gebäude machen zu können. «Etwas, worum ich in 25 Jahren in dieser Arbeit zum ersten Mal bitten musste.» Solche Schübe, sagte sie, würden oft auftreten, wenn sich der Beschuldigte in Stresssituationen befand.

Weil die Sachverständige während der vorgängigen Befragungen nur wenige Informationen zum Gesundheitszustand des Mannes erhielt zu den Jahren, in denen er Geld einer Sozialversicherung bekam, musste sie auf Fotos und Aktivitäten dieser Zeit zurückgreifen. Er hatte nach 2010 wieder mehr Reisen mit dem Auto unternommen, teilweise auch solche, die bis 10 Stunden gehen. Zudem sah er auf Fotos immer besser aus, strahlte etwa auf Selfies oder war fröhlich tanzend auf der Hochzeit seiner Tochter zu sehen. Ab dieser Zeit könne der Beschuldigte nicht mehr unter einer schweren Erkrankung gelitten haben und sei voll arbeitsfähig gewesen. Das sei auch möglich, wenn er – in milderer Form – weiter an der Krankheit leide.

Fotobeweise hatte auch die IV irgendwann gefordert, als sich die Krankheit einfach nie zu bessern schien, und setzte Sozialdetektive auf den Mann an. Diese beobachteten, wie er Schwerstarbeit auf der Baustelle machte, teilweise bis zu neun Stunden. Nicht möglich mit den starken Konzentrationsstörungen wegen der Depression, über die er auf Formularen und beim Arzt klagte. Auch beim fröhlichen Feierabendbier-Anstossen fotografierten sie ihn. Keine Anzeichen einer schweren Depression, die mit völliger Antriebslosigkeit einhergeht.

Der Beschuldigte verzichtete zwar entgegen des Rats seines Verteidiger auf das Recht zur Aussageverweigerung, machte faktisch aber doch keine wirkliche Aussage. Von Gerichtspräsident Thomas Meier zu seinen Handlungen oder deren Gründen befragt, gab er meist an, sich nicht erinnern zu können, so etwas gemacht zu haben oder nicht mehr zu wissen, warum. Das Gericht wollte etwa wissen, weshalb er auf den IV-Formularen immer wieder angab, unverändert starke Krankheitssymptome zu haben und zu 100 Prozent arbeitsunfähig zu sein. Er erinnere sich nicht, das ausgefüllt zu haben, antwortete dieser. Vielleicht sei das seine Tochter gewesen.

Die psychiatrische Sachverständige erklärte, es komme vor, dass Leute im Internet nachschauten, welche Symptome sie auf einem IV-Fragebogen oder beim Arzt angeben müssen, um als krank zu gelten. Man finde im Internet ein breites Angebot solcher Tipps und sogar Personen, die Krankheitssimulierende auf ein Gespräch mit dem Arzt vorbereiten.

Das Haus im Kosovo nicht angegeben

Auch als seine Firma in der Baubranche Konkurs ging und wenig später die Firma, die er danach gegründet hatte, machte er falsche Angaben. Das bedeutet Pfändungsbetrug. Er verschwieg dem Betreibungsamt im Rahmen der Pfändung ein zweites Bankkonto und eine Liegenschaft im Kosovo. Er wisse nicht mehr, was er da ausgefüllt habe, übersetzte die Dolmetscherin für ihn. «Wenn der Staat mir ein Formular hinhält, unterschreibe ich das eben, verstehen tue ich das ohnehin nicht.» Und das Haus sei alt und habe ohnehin keinen Wert mehr. Auch verstehe er gar nichts von Buchhaltung und habe nicht gewusst, wie schlecht es um die Firma stehe. Der Buchhalter habe alles gemacht.

Als jedoch Bezirksrichter Christoph Mauch feststellte, dass der Beschuldigte trotz seines angeblich schlechten Deutschs die Fragen des Gerichts bereits beantwortete, bevor die Dolmetscherin alles übersetzt hatte, war die Wut über den verletzten Stolz stärker als die Selbstbeherrschung des Beklagten: «Ich war in meiner Heimat Professor und hatte in der Schweiz zwei Firmen. Ich bin krank, aber nicht dumm!»

Den kränklichen Mann vorgegeben

Heute hat die Familie viele Schulden und praktisch kein Einkommen. Weil er seine Verdienste verschwieg, fordern IV und das lokale Sozialamt ihr Geld zurück. Der Staatsanwalt sagte im Plädoyer, der Beschuldigte habe sich «als kränklicher alter Mann hingestellt, der von nichts eine Ahnung hat». Die Richter und Richterinnen milderten das beantragte Urteil in 10 Monate Freiheitsstrafe unbedingt und zwei Jahre bedingt mit einer Probezeit von zwei Jahren. Denn: Vor 2016 war die Handlung, dass man eine Gesundheitsverbesserung nicht von sich aus der IV meldet, noch nicht strafbar. Und das erste Revisionsformular, auf dem der Beschuldigte gemäss Gericht den Zustand falsch angab, wurde ihm erst 2013 zugeschickt. Der Landesverweis beträgt sieben Jahre. Das Urteil kann weitergezogen werden.