Sie sind hier: Home > Deutschland > «Es ist beschämend» – Politologe zieht vernichtendes Fazit zum Ampel-Aus

«Es ist beschämend» – Politologe zieht vernichtendes Fazit zum Ampel-Aus

Am Mittwochabend zerbrach die deutsche Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP. Wer daran Schuld trägt, wie es nun in Deutschland weitergeht und wer am meisten von Neuwahlen profitieren wird, sagt der deutsche Politologe Michael Koss.

Am Tag, an dem Donald Trump die Wahlen zum US-Präsidenten gewinnt, verkündet die deutsche Regierung den nächsten Hammer: Die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP – die Ampel – ist geplatzt. Was ist los in Deutschland?

Michael Koss: Das ist eine gute Frage. Dass dieses Ereignis auch noch mit der US-Wahl zusammenfällt, passt ins grundsätzliche Motto der Ampelregierung: Erst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch das Pech dazu.

Warum platzte diese Bombe genau jetzt?

Seitens Christian Lindner von der FDP gab es scheinbar einen klaren Ausstiegsplan. Dieser stand für ihn schon gestern Nachmittag fest. Er wollte zu diesem Gipfel erscheinen, den die Ampelregierung hielt, und direkt wieder abmarschieren. Bundeskanzler Olaf Scholz ist ihm jedoch zuvorgekommen, indem er ihn quasi direkt zur Überreichung der Entlassungsurkunde an den Bundespräsidenten weiterverwiesen hat. So kam das konkret zu Stande. Kurzum könnte man sagen: Die FDP hat beschlossen, die Ampel zu verlassen. Dass das jetzt auch noch an dem Tag der US-Wahl eskalieren würde, nahm sie billigend in Kauf. Das allein sagt schon einiges über die FDP aus.


Was sagt das aus Ihrer Sicht konkret aus?

Dass in der FDP offensichtlich allen alles ziemlich egal ist. So eine Eskalation an einem solchen Tag zu betreiben, in einem Land wie Deutschland, das aus historischen Gründen stark auf Stabilität fixiert ist, ist einfach verantwortungslos.

Wer trägt aus Ihrer Sicht die Schuld an dieser Misere?

Für mich trägt eindeutig die FDP mit Christian Lindner die Hauptverantwortung. Die Grünen und SPD waren während der Ampel-Koalition immerhin konstruktiv und kompromissbereit. Das hat ihnen viel Kritik eingebracht, insbesondere den Grünen. Aber: Immerhin haben sie sich stets bemüht. Die FDP hingegen hat mühsam geschlossene Kompromisse immer wieder zerschlagen. Meistens im Zusammenhang mit der Schuldenbremse.

Warum hat sich die FDP so renitent verhalten? Das entgeht doch auch der Wählerschaft nicht. Gemäss Umfragen hat die FDP bereits davor immer mehr an Zustimmung in der Bevölkerung verloren.

Die FDP betreibt hier Traumabewältigung. Christian Lindner hängt seine Aussage «Lieber gar nicht als falsch regieren» seit 2017 wie ein Mühlstein um den Hals. Politik ist aber keine Selbsttherapie.

Stattdessen demonstriert die FDP Macht, die sie nun gar nicht mehr hat.

Genau. Die FDP ist zu einer Monokultur verkommen. Sie ist ein politischer Acker, auf dem nahezu nichts mehr wächst – ausser Forderungen nach Zurückhaltung bei den Staatsausgaben und nach Umverteilung nach oben.

Wie geht es jetzt weiter in Deutschland?

Das hat der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz in der Hand. Wenn er sich wirklich nicht darauf einlässt, den Bundestag erst im Januar aufzulösen, dann steuern wir auf vorgezogene Neuwahlen zu, weil die Beliebtheit der SPD und Grünen – wenn wir überhaupt noch von Beliebtheit sprechen können – sonst noch mehr Schaden nehmen würde. Ohne die Unterstützung von der CDU wären SPD und Grüne bis im Januar blockiert und könnten praktisch nicht regieren.

Im Osten Deutschlands haben die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht kürzlich grosse Erfolge bei den Landtagswahlen erzielen können. Spielt diese Regierungskrise ihnen bei Neuwahlen nicht in die Hände?

Absolut. Wenn man am Tag nach der US-Wahl die Regierung platzen lässt, wie kann man sich dann im Wahlkampf hinstellen und Parteien wie der AfD und dem BSW Verantwortungslosigkeit vorwerfen? Was jetzt passiert, ist eine massive Kampagne für AfD und BSW. Sie brauchen gar nichts mehr für die Neuwahlen zu machen. Einfach vielleicht ein bisschen staatstragend aus der Wäsche gucken – das reicht für ein gutes Wahlresultat. Es ist beschämend.

Müssen wir uns nun Sorgen machen, dass die AfD in Deutschland in die Regierung kommen könnte?

Stand heute würde ich schätzen, dass die CDU bei Neuwahlen gewinnen wird. Wir sprechen dabei von einem Sieg mit einem Wähleranteil von 34 Prozent. Das ist wenig, angesichts der politischen Schützenhilfe der Ampelparteien. Die CDU müsste eigentlich viel stärker von dieser Krise profitieren können. Viele Wählerinnen und Wähler werden sich jedoch Sahra Wagenknecht und Björn Höcke zuwenden. Das ist ein wirkliches Problem. Und darüber darf man sich in den Nachbarländern Deutschlands, und damit in der Schweiz, wirklich Sorgen machen.

Wie geht es den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland einen Tag nach dem Ampel-Aus?

Meine Wahrnehmung ist, dass viele Leute einfach baff sind. Nach der Trump-Wahl ist das einfach zu viel. Ich bin selbst überrascht, wie der Koalitionsabbruch jetzt Schlag auf Schlag abgelaufen ist. Dass dieses Gipfeltreffen stattfinden würde, wusste man. Dass aber die FDP so entschlossen sein würde, wurde mir erst bewusst, als mich Journalisten darauf aufmerksam machten. Seither ändert sich die Situation bei uns gefühlt jede Minute. Ich glaube, viele sind überfordert und müssen das alles erst mal verdauen.

Diese Instabilität kommt nicht nur aus politischer Sicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Die deutsche Wirtschaft stagniert. Manche sprechen gar von einer Krise.

Das kann man so sagen, ja. Aus dieser Ausgangslage kann man jetzt aber natürlich sehr verschiedene Konsequenzen ziehen. Und ich glaube, genau das ist das Restkalkül der FDP. Sie sagen jetzt, Deutschland muss endlich seine Finanzen in Ordnung bringen, was konkret heisst, dass man eine Austeritätspolitik betreiben müsste. Andere sagen, jetzt müssen wir Geld in die Hand nehmen und massiv in unsere Infrastruktur und Selbstverteidigung investieren.

Und was wäre die richtige Strategie?

Ich bin kein Ökonom, ich will mir nicht anmassen, die richtige Antwort parat zu haben. Was ich aber aus politikwissenschaftlicher Sicht sagen kann ist: In Zeiten solcher Krisen, wie wir sie heute in der Welt, in Europa, in Deutschland erleben, wäre es Wahnsinn, kein Geld in die Hand zu nehmen. Das hat die Vergangenheit gezeigt.

Wessen Vergangenheit? Jene von Deutschland?

Das beste Beispiel stammt aus den USA. Warum sind die USA am besten durch die Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren gekommen? Wegen des «New Deal» des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Dieser bestand aus zahlreichen Wirtschafts- und Sozialreformen. Und was hätte dafür gesorgt, dass die USA wirklich eine multiethnische Demokratie hätte werden können? Das aufwendige Programm mit weiteren sozialpolitischen Reformen namens «Great Society» von Lyndon B. Johnson, der von 1963 bis 1969 US-Präsident war. Aber der Plan der «Great Society» konnte nicht umgesetzt werden. Das ist für mich ein zentraler Grund, warum die republikanische Partei in den USA heute so ist, wie sie ist: voller White-Supremacy-Anhängern und einem Mann wie Donald Trump an der Spitze. Deshalb sage ich: In Momenten der grossen Krise müssen wir Geld in die Hand nehmen. In Deutschland geht es jetzt darum, die Demokratie am Leben zu erhalten.

Da haben sie noch gelächelt (von links): Annalena Baerbock (Grüne), Robert Habeck (Grüne), Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Christian Lindner (FDP), nachdem sie 2021 ihren gemeinsamen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien unterschrieben hatten.
Bild: dpa

Wo soll dieses Geld herkommen?

Ich bin gleicher Ansicht wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Er hat in seiner Rede gesagt, Deutschland ist wesentlich weniger verschuldet als die meisten anderen europäischen Länder. Das würde ich übersetzen in: Wir können jetzt noch Schulden machen und wir sollten es tun. Wir müssen die Schuldenbremse aus dem Grundgesetz streichen. Aus meiner Sicht wäre es auch im Sinne des womöglich nächsten Kanzlers, Friedrich Merz von der CDU, die Schuldenbremse abzuschaffen. Sonst beginnt für ihn bei Amtsantritt dasselbe Rumgeeiere mit Ausnahmeregelungen, Sondervermögen, Notsituationen, um Investitionen und Ausgaben tätigen zu können, wie unter der Ampel-Koalition.

Deutschland ist auch eines der wichtigsten Länder innerhalb der EU. Welche Konsequenzen hat der Koalitionsabbruch nun für ganz Europa, die EU, ja vielleicht auch die Schweiz, die derzeit mit der EU in Verhandlungen steckt?

Bitte hören Sie keinen Nationalismus heraus, wenn ich das folgende sage: Die deutsche Innenpolitik ist wichtiger für die EU als die Innenpolitik der allermeisten EU-Mitgliedsstaaten. Mit Ausnahme vielleicht von Frankreich. Das ist einfach so. Das Ende der Ampel-Koalition sendet ein Signal der Ziellosigkeit und der Uneinigkeit an die EU. Und das in einem Moment, in dem die Haltung der USA zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine unklar ist. Am Montag stellte sich Annalena Baerbock in Kiew hin und erzählte den Leuten, dass sie zur Ukraine stehe. Und zwei Tage später kann sie zu gar nichts mehr stehen, weil es keine Mehrheiten mehr für irgendetwas gibt. Wie kann man nur so verantwortungslos handeln? Ich kann das wirklich kaum fassen.

Können Sie aus dieser Krise noch irgendetwas Positives ziehen?

Na ja, zumindest kann man sagen, dass es einige Wirtschaftswissenschaftler gibt, die das Ende der Ampel-Koalition begrüssen. Und für einige ist es auch ein Aufatmen, weil die Ampel-Koalition ihnen schon immer ein Dorn im Auge war. Gleichzeitig haben sich aber auch immer alle an der GroKo gestört, also der Regierungskoalition von CSU und SPD. Dabei ist die GroKo das Zukunftsszenario für Deutschland, auf das wir uns – stand heute – zubewegen.

Wie schauen Sie langfristig in die Zukunft Deutschlands? Werden wir den Zerfall von Koalitionen öfters sehen?

Ich glaube schon, dass unsere Politik kurzatmiger wird. So wie sie es überall geworden ist. Die spannende Frage ist, ob das BSW irgendwann bereit dazu sein wird, verantwortungsvolle Kompromisse einzugehen. Meine persönliche Einschätzung dazu: Nein. Wenn ich recht behalten werde, haben wir möglicherweise ein dauerhaftes Problem.

Weshalb?

Eigentlich sollten wir uns nicht um politische Machtkämpfe kümmern, sondern wir müssten uns Gedanken darüber machen, was die Basis braucht. Die alten politischen Konflikte sind nämlich so sichtbar wie schon lange nicht mehr: die Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland, die zunehmende Gefahr, die von Russland ausgeht, die Tatsache, dass wir uns auf die US-amerikanische Schutzmacht nicht mehr verlassen können. Aber ich habe leider das Gefühl, bei den wenigsten Politikerinnen und Politikern in Deutschland ist diese Gefahr bereits eingesickert. In ihrer Rhetorik schon, aber nicht in ihrem Handeln.