Sie sind hier: Home > Deutschland > Früher kamen 50, heute kommen 1000: Wie ein Ansturm von Flüchtlingen eine Berliner Hilfseinrichtung an ihre Grenzen bringt

Früher kamen 50, heute kommen 1000: Wie ein Ansturm von Flüchtlingen eine Berliner Hilfseinrichtung an ihre Grenzen bringt

Über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer hat Deutschland bisher aufgenommen. Im Osten Berlins, wo sich das Hilfswerk «Arche» um Bedürftige kümmert, könnten die Lebensmittel bald knapp werden. Deutsche Kommunalpolitiker sprechen von einer Zeitbombe.

Hellersdorf ist ein Plattenbau-Bezirk am östlichen Rand von Berlin; das Zentrum der deutschen Hauptstadt ist hier weit weg. Probleme, die dort noch kaum sichtbar sind, kann in Hellersdorf niemand übersehen. Die «Arche» ist eine christliche Einrichtung, die sich vor allem um Kinder und Jugendliche kümmert; untergebracht ist sie in einer ehemaligen Schule.

Früher, so erzählt Paul Höltge, seien alle zwei Wochen rund 50 Menschen gekommen, um sich gratis einen Sack mit Lebensmitteln abzuholen. Seit dem Jahreswechsel seien es um die 1000, die anständen, um sich und ihre Familien einzudecken.

Höltge ist Pressesprecher der «Arche». An diesem Donnerstagvormittag hat sich auf dem Hof und darüber hinaus bereits eine lange Schlange gebildet; manche warten seit 7 Uhr. Die Ausgabe beginnt um 11 Uhr. Wer am Hofeingang ein Eintrittsbillett bekommt, erhält auch eine Tüte; um 10 Uhr hätten sie bereits 700 Karten verteilt, fast doppelt so viele wie zwei Wochen vorher, berichtet Höltge. «Kein Vordrängeln, stopp!», ruft eine Frau am Hofeingang. Mithilfe der Billetts wolle man vermeiden, dass dieselben Leute zweimal kämen, erklärt die ehrenamtliche Helferin.

Brot und Eier sind 60 Prozent teurer als vor einem Jahr

Der Andrang hat zwei Gründe: gestiegene Preise, vor allem aber ein Ansturm von Flüchtlingen. Über eine Million Ukrainer hat Deutschlandseit Beginn des Kriegesaufgenommen; 240’000 weitere Personen, vor allem aus Syrien und Afghanistan, haben letztes Jahr einen Asylantrag gestellt.

Kaum ein Tag vergeht, an dem deutsche Medien nicht über Kommunen berichten, die sich überfordert fühlen. Verglichen mit der Flüchtlingskrise von 2015 ist das Thema in der öffentlichen Debatte dennoch kaum präsent, auch wenn manche Kommunalpolitiker von einer «Zeitbombe» sprechen.Laut einer Umfrage halten nur noch 39 Prozent der Deutschen das Asylrecht in seiner jetzigen Form für richtig.In Ostdeutschland glauben nur 10 Prozent, noch mehr Flüchtlinge aufnehmen zu können.

Die Schlange vor dem Hof der «Arche» wird von Woche zu Woche länger. Manche stehen ab 7 Uhr an, um einen Sack mit Lebensmitteln abzuholen.  
Bild: PD

Etwa die Hälfte derer, die sich in der «Arche» eindeckten, kämen aus der Ukraine, schätzt Höltge, die übrigen seien Syrer, Afghanen und Deutsche. Wer hierher kommt, hat oft lange vor Monatsende kein Geld mehr. Lebensmittel sind in Deutschland etwa ein Fünftel teurer als noch vor einem Jahr; Brot und Eier kosten bis zu 60 Prozent mehr.

Sie sei nun zum vierten Mal hier, erzählt Vera Iwanowa. Die 63-Jährige stammt aus Charkiw im Osten der Ukraine. Im März 2022, kurz nach dem russischen Überfall, ist sie nach Deutschland gekommen. Ein Jahr lang lebte sie in einem Flüchtlingsheim, vor einigen Wochen ist sie mit ihrer 16-jährigen Tochter in eine Wohnung umgezogen. «Das Geld, das ich vom Staat erhalte, gebe ich lieber für die Wohnung aus als für Lebensmittel», sagt Iwanowa. In Charkiw hat sie als Musiklehrerin gearbeitet.

Möglich, dass Menschen wie Vera Iwanowa schon bald als Beispiel für gelungene Integration herangezogen werden: Wie viele Ukrainer aus dem Osten des Landes spricht sie vor allem Russisch, aber auch schon recht gut Deutsch. Ihre Tochter besucht in Berlin ein Gymnasium. Iwanowa ist eine fröhliche, zuversichtliche Frau. Klagen scheint nicht ihre Sache zu sein. Kummer bereitet ihr allerdings Mobbing in der Schule ihrer Tochter: «Die russischen Schüler haben eine Gehirnwäsche durch Propaganda-Medien erhalten. Meiner Tochter rate ich, das Gerede zu ignorieren.»

Ein «unglaublicher Sozialneid» auf die Ukrainer

Bernd Siggelkow, der Gründer und Chef des Berliner Kinder- und Jugendhilfswerks «Arche».
Bild: PD

Iwanowas andere grosse Sorge ist, dass es in der «Arche» bald nicht mehr weitergehen könnte. Tatsächlich könnte der Einrichtung in absehbarer Zeit das Geld ausgehen: Nachdem Erdbeben in Syrien und der Türkeihätten sich die Prioritäten der Spender verschoben, sagt Bernd Siggelkow.

Der 69-Jährige ist der Chef der «Arche» und ausserdem Pfarrer, auch wenn er eher wie ein unerschrockener Sozialarbeiter wirkt als wie ein Geistlicher. Siggelkow stammt aus Hamburg. Mit 16 lief er von zu Hause weg und lebte einige Jahre auf der Strasse. Nach der Wende kam er in den Osten Berlins. Hellersdorf war damals ein junger Stadtteil ohne viel Infrastruktur, sodass die Jugendlichen auf der Strasse herumhingen. «Die Kirche wollte nichts machen, da machte ich es selber», sagt Siggelkow.

In einer früheren Turnhalle stehen die Lebensmittel-Säcke. Die gefüllten Tüten bezieht die «Arche» von einer Supermarktkette. Ein Sack kostet 50 Euro; die Gesamtkosten pro Verteilung betragen 50’000 Euro. Einen Sonderpreis erhalte seine Einrichtung nicht, berichtet Siggelkow. Die Säcke enthalten haltbare Lebensmittel wie Nudeln, Kaffee und Konserven. Frisches Obst oder Gemüse zu verteilen sei nicht möglich. «Drei Paprika für 3,99 Euro, wer soll das bezahlen?», fragt der Pfarrer.

Bis 2015 gab es in Hellersdorf kaum Migranten; nun liegt der Ausländeranteil bei 30 Prozent. Von Konflikten zwischen Einheimischen und Zuwanderern, über die deutsche Medien immer wieder berichten, ist an diesem Vormittag nichts zu sehen. Allerdings gebe es im Quartier einen «unglaublichen Sozialneid», erzählt Siggelkow. Manche Deutsche klagten, die Ukrainer bekämen mehr als sie. «Das ist irgendwie auch verständlich», meint er. «Manche hier wohnen zu siebt auf 70 Quadratmetern.»

Wo der Staat überfordert ist, müssen Private einspringen

Auch von «verhaltenskreativen Jugendlichen» und Handgreiflichkeiten weiss Siggelkow zu berichten. Auf der letzten Weihnachtsfeier habe es Schlägereien unter Eltern gegeben. Einen Sicherheitsdienst brauchten sie aber nicht: «Wir können schon selber Hand anlegen, auch wenn wir eine christliche Einrichtung sind.»

Bernd Siggelkow blickt bang in die Zukunft: In zwei Wochen müssten sie vielleicht schon 1400 Tüten verteilen. «Bald geht es nicht mehr», sagt er. Dass die «Tafel», eine ähnliche Einrichtung, einen Aufnahmestopp verhängt hat, habe die Situation weiter verschärft, zumal sich herumgesprochen habe, dass man hier unkompliziert Hilfe erhalte.

Ähnliche Beschränkungen will die «Arche» nicht erlassen. Eine der wenigen Regeln hier ist, dass nur an Familien ausgegeben wird, nicht an Einzelpersonen, auch wenn man sich dabei auf das Wort der Leute verlassen muss. Oft seien es gar nicht die Bedürftigsten, die kämen, sagt Siggelkow. «Die haben ein Schamproblem, wobei die Schamgrenze mit dem Energiepreisen bei manchen gefallen ist.» Eigentlich, so der Pfarrer, erfüllten sie hier eine staatliche Pflichtaufgabe.