Sie sind hier: Home > International > «Ich muss mir nicht vorwerfen, ich habe zu wenig versucht»: Merkel verteidigt ihre Russland-Politik und gibt sich überraschend persönlich

«Ich muss mir nicht vorwerfen, ich habe zu wenig versucht»: Merkel verteidigt ihre Russland-Politik und gibt sich überraschend persönlich

Vor exakt sechs Monaten schied sie nach 16 Jahren aus dem Amt, seither war es still um sie: Am Dienstagabend hat sich Ex-Kanzlerin Angela Merkel zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. War sie Putin gegenüber zu nachsichtig? Warum verwehrte sie der Ukraine die Nato-Mitgliedschaft? Und: Wie lebt es sich als Rentnerin?

Nach 16 Jahren im Kanzleramt verabschiedete sich Angela Merkel im Dezember 2021 in den politischen Ruhestand. Die heute 67-Jährige steht seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges für Versäumnisse ihrer Politik in der Kritik – so verwehrte die CDU-Politikerin 2008 der Ukraine eine rasche Nato-Mitgliedschaft und verteidigte die umstrittene und inzwischen auf Eis gelegte Ostseepipeline Nord Stream 2. Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit sechs Monaten nahm Merkel im Gespräch mit dem «Spiegel»-Journalisten Alexander Osang erstaunlich offen Stellung zu politischen, aber auch persönlichen Fragen. Das Publikum im Berliner Ensemble erfuhr auch, was es mit Merkels Zitteranfällen im Jahr 2019 auf sich hatte.

Merkel über den Ukraine-Krieg

«Das ist ein brutaler, das Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt», sagte die frühere Kanzlerin zu Putins Überfall gegen die Ukraine. Ob der Krieg zu verhindern gewesen wäre, stellt Merkel in Frage. Es sei richtig gewesen, nach der Krim-Annexion 2014 das Abkommen von Minsk II im Jahr 2015 zu schliessen. Ohne dieses Abkommen, so Merkel, wäre Putin wohl früher in die Ukraine einmarschiert und hätte womöglich noch grösseren Schaden anrichten können als heute.

«Diese sieben Jahre waren für die Ukraine ganz wichtig.»

Allerdings hat Merkel das Unheil kurz vor ihrem Ausscheiden aus dem Kanzleramt erahnt. In Anspielung auf das Minsker-Abkommen sagte sie: «In den letzten Monaten meines Amtsjahres war klar, dass Putin damit im Grunde abgeschlossen hatte.»

Merkel über ihr Nein zur Nato-Mitgliedschaft der Ukraine 2008

2008 hatte sich die damalige deutsche Kanzlerin beim Nato-Gipfel gegen eine rasche Aufnahme Georgiens und der Ukraine in das Militärbündnis ausgesprochen. Bis heute wird sie in Kiew dafür kritisiert. Merkel verteidigt ihre damalige Haltung: «Die Ukraine damals war nicht die Ukraine, wie wir sie heute kennen», sagte Merkel in Anspielung auf ein in politische Lager gespaltenes, «demokratisch nicht gefestigtes» und «von Oligarchen beherrschtes» Land. Zudem wusste Merkel über die Denkweise Putins genauestens Bescheid. Eine rasche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine hätte der Kreml-Präsident damals kaum akzeptiert:

«Ich war mir sehr sicher, dass Putin das nicht einfach wird geschehen lassen.»

Putin hätte, so ist Merkel überzeugt, damals einen Krieg während des Assoziierungsprozesses der Ukraine begonnen. «Ich wollte das nicht provozieren.» Und: Damals wäre die Ukraine kaum in der Lage gewesen, sich gegen einen russischen Angriff so zur Wehr zu setzen wie heute, glaubt die Ex-Kanzlerin. Die Ukraine wäre nach Merkels Ansicht 2008 nicht in der Lage gewesen, «diesen Widerstand» leisten zu können, «den sie heute leistet.» Sie sei beeindruckt und habe allergrösste Hochachtung vor Präsident Selenski und den Ukrainern.

Merkel über ihre eigenen Fehler in der Russland-Politik

«Ich habe mich natürlich gefragt: Hätte man diese grosse Tragik verhindern können?», sagte Merkel. Sie habe sich während ihrer gesamten Kanzlerschaft mit den Fragen auseinandersetzen müssen, die als Spätfolgen durch den Zerfall der UdSSR entstanden seien. Sie bedauert, dass es den Nato-Partnern und der EU nicht gelungen sei, «eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die dies hier hätte verhindern können.» Persönlich mache sie sich allerdings keine Vorwürfe: «Wenn ich alles summiere», stelle sie fest, «dass ich mir nicht vorwerfen muss, ich habe zu wenig versucht.» Die Annahme sei falsch, dass sie im naiven Glauben agiert habe, Putin durch wirtschaftliche Beziehungen («Wandel durch Handel») zu zähmen. Aber es sei ihre Pflicht als Kanzlerin gewesen, bei allen Unterschieden zwischen beiden Staaten für eine friedliche Koexistenz zu sorgen. Es sei «eine grosse Trauer», dass der Krieg gegen die Ukraine nicht verhindert werden konnte.

«Aber ich mache mir keine Vorwürfe, dass ich es nicht versucht hätte.»

Merkel über Putin

Es hiess stets, die beiden Staatslenker verstünden sich gut – Merkel spricht russisch, der einst in Dresden stationierte Ex-KGB-Agent Putin fliessend Deutsch. Doch von einem freundschaftlichen Verhältnis könne nicht die Rede sein, sagte Merkel.

Putins Labrador beschnuppert Angela Merkel. Der Kreml-Chef wusste genau, dass die Kanzlerin Angst vor Hunden hat. Merkel zu dieser Szene heute: «Eine tapfere Bundeskanzlerin muss mit so einem Hund fertig werden.»
Bild: Dmitry Astakhov/Januar 2007

Bei einem Besuch in 2007 in Sotschi, als Putin die Kanzlerin einzuschüchtern versuchte, als er – im Wissen um Merkels Angst vor Hunden – seine Labrador-Hündin in den Raum liess, habe Putin offen über seine revisionistischen Fantasien gesprochen. Er habe ihr erläutert, dass für ihn «der Zerfall der Sowjetunion die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts» gewesen sei. Sie habe entgegnet, dass für sie der Fall der Mauer grösstes Glück bedeutet habe. «Er hält die Demokratie für falsch.» Und weiter:

«Putins Feindschaft geht gegen das westliche demokratische Modell.»

Der Kreml-Herrscher wolle die EU zerstören, weil er diese als «Vorstufe zur Nato» betrachte. Obschon Putin auch seinem eigenen Land grossen Schaden durch den Krieg zufüge, hält Merkel ihn für rational handelnd: «Ich sehe eine kontinuierliche Linie, bei der er immer mehr Grenzüberschreitungen gemacht hat.»

Merkel über ihre Zitteranfälle

Die Kanzlerin wurde bei öffentlichen Terminen im heissen Sommer 2019 wiederholt von heftigen Zitteranfällen heimgesucht, vor allem beim Abschreiten militärischer Paraden. Das Land war in Sorge über den Gesundheitszustand ihrer Regierungschefin. Merkel lüftet nun das Geheimnis. Der Tod ihrer Mutter im selben Jahr habe sie «schon sehr erschöpft.» Zudem habe sie zu wenig getrunken. Und, nachdem Medien im In- und Ausland über Merkels Zittern berichtet hätten:

«Ich hatte auch Angst, dass wieder eine solche Situation zutage tritt.»

Es sei schon «belastend», wenn stets «Teleobjektive auf einen» gerichtet seien.

Merkel über ihr persönliches Befinden

«Mir persönlich geht es sehr gut», sagte Merkel. Sie habe sich Zeit genommen, an die Ostsee zu fahren und zu lesen. Zudem habe sie sich «das Feld des Hörbuchs mir erarbeitet. Das Schöne ist, dass man sich da nicht ganz so konzentrieren muss beim Lesen.» Natürlich sei sie als Ex-Kanzlerin nicht eine «ganz normale Bürgerin». Sie könne sich nicht zu allem äussern, ohne dass dies eine politische Komponente erfahren würde. Aber:

«Ich möchte auch etwas machen, das mir Freude macht.»

Kritikern, die sagten, sie ziehe sich zurück und absolviere nur noch «Wohlfühltermine», denen «sage ich: Ja!».

Merkel zum Zeitpunkt für ihres Rücktritts

Sie habe sich «ziemlich gequält», um 2017 noch einmal für eine vierte Amtszeit zu kandidieren. Es sei ihr aber wichtig gewesen, gerade auch mit Blick auf die einschneidende Flüchtlingspolitik von 2015, sich mit ihrem Programm der Bevölkerung noch einmal zu stellen. Nach vier Amtsperioden sei der Rücktritt aber «völlig klar» gewesen.

«16 Jahre ist für die heutige Zeit wirklich lange. Es musste innenpolitisch eine neue Regierung her. Das hat man an allen Ecken und Enden gewünscht.»