Die Brittnauer Weissstörche haben Nässe und Kälte relativ gut überstanden
Kaum hat er sein Auto auf dem Brittnauer Schulhausplatz parkiert, richtet sich sein Blick auf das Schulhausdach. «Ich bin halt immer noch unheimlich fasziniert vom Weissstorch», sagt Peter Hartmann bei der Begrüssung fast schon entschuldigend. Und das seit bald 40 Jahren. Denn seit 1987 kümmert sich der 76-jährige Brittnauer Storchenvater um das Wohlergehen der Weissstörche im Dorf.
Andauernde Kälte und Nässe sind problematisch
Das Zugverhalten der Weissstörche habe sich im Lauf der Zeit verändert, sagt Hartmann. Längst nicht mehr alle Störche würden sich ab Ende August auf die Reise Richtung Süden begeben. Das belegen auch die Zahlen der Gesellschaft Storch Schweiz. Seit 2017 erfasst sie mit ihrer Winterzählung die Anzahl Störche, die nicht mehr wegziehen. Dieser Anteil hat sich in den letzten sieben Jahren tendenziell von rund einem Drittel auf rund die Hälfte erhöht. In Brittnau sind das im letzten Jahr 14 «sesshafte» Störche gewesen. «Es sind wahrscheinlich die älteren Störche, welche bemerkt haben, dass das Futterangebot in der Region auch über den Winter ausreichend ist.»
Ende Februar sind dann die ersten Störche aus ihren Winterquartieren nach Brittnau zurückgekehrt – schliesslich hat Hartmann 73 Altstörche in Brittnau, weitere sechs in den Zofinger Trinermatten registriert. In Brittnau hat er mindestens 92 Jungstörche gezählt – in einem weiteren Nest konnte er noch nicht verifizieren, ob dort auch Nachwuchs aufgezogen wird. Weitere sechs Jungstörche werden in den Trinermatten aufgezogen. So dürften dieses Jahr in der Region insgesamt gegen 100 Jungstörche geschlüpft sein.
Die ersten in der dritten Aprilwoche. «Diese Jungstörche sind relativ glimpflich davongekommen», sagt Hartmann. Die später geschlüpften Jungtiere hätten wesentlich mehr Probleme gehabt, weil der Mai andauernd nass und kalt gewesen sei. Denn Nässe und Kälte ertragen Jungstörche schlecht. Einerseits sind ihre Daunen nicht wasserabstossend. «Wenn es andauernd regnet und kalt ist, besteht die Gefahr, dass die Jungen eine Lungenentzündung einfangen», erklärt der Storchenvater. Andererseits sind die Nester dermassen verdichtet, dass das viele Wasser nur schlecht ablaufen kann. Die Gefahr, dass Jungtiere ertrinken, besteht bei starkem und anhaltendem Regenfall ebenfalls.
Mindestens 30 Jungstörche haben nicht überlebt
Optimal sei der Wetterverlauf vor allem für die später geborenen Jungstörche wirklich nicht gewesen, betont Hartmann noch einmal. So musste der Storchenvater denn auch zur Kenntnis nehmen, dass bisher sicher 30 Brittnauer Jungstörche (Stand: 8. Juni) das nasse Maiwetter nicht überlebt haben. Eine Katastrophe? «So ist die Natur», stellt Hartmann lapidar fest. Um dann zu präzisieren: «Nein, ich finde eigentlich, dass man in Anbetracht des nassen und kühlen Wetters festhalten darf, dass in Brittnau bisher recht viele Jungstörche überlebt haben.» Zudem sei zu bedenken, dass Jungtiere nach etwa sechs Wochen bezüglich Kälte und Nässe einigermassen «über den Berg» seien.
Die genaue Anzahl gesunder Jungtiere wird Hartmann erst etwa Ende August an die Gesellschaft Storch Schweiz übermitteln. Dann nämlich, wenn diese sich auf den Flug in ihr Winterquartier begeben haben. Bis dahin wird er regelmässig die Horste im Storchendorf inspizieren und allfällige weitere Verluste registrieren. Eines ist für ihn bereits klar: Der bisherige Rekord vom vergangenen Jahr – damals haben in Brittnau 32 Brutpaare bei 10 Verlusten 74 gesunde Junge aufzogen – wird dieses Jahr unerreicht bleiben.
Eine Erfolgsgeschichte für das Storchendorf
Trotzdem: Die Wiederansiedlung des Weissstorchs in Brittnau ist und bleibt für Hartmann eine Erfolgsgeschichte. «Tendenziell ist die Storchenpopulation im Dorf in den letzten Jahren stetig gewachsen», hält er fest. Und dies, obwohl 85 Prozent aller Jungstörche das Alter von zwei bis drei Jahren – dann werden sie geschlechtsreif – nicht erreichen würden. Offenbar finden die grossen Vögel im Storchendorf ideale Bedingungen vor. Vor allem rund um den Schulhausplatz, wo dieses Jahr alleine auf dem Schulhausdach sieben Horste zu finden sind, unzählige weitere rund ums Schulhaus auf Bäumen und hohen Masten. «Der Storch ist ein Kolonienbrüter, darum ist der Raum beim Schulhaus mit den vielen grossen Dächern und den alten, hohen Bäumen ideal», betont Hartmann. Zudem stimme auch das Nahrungsangebot in der näheren Umgebung.
Das war nicht immer so. Bis 1927 waren freilebende Störche in Brittnau laut Wikipedia heimisch, danach waren sie verschwunden. 1948 brütete letztmals ein Storchenpaar in der Schweiz, weil immer mehr Flüsse und Bäche verbaut sowie Feuchtgebiete trockengelegt wurden. Etwa zur gleichen Zeit startete die Storchensiedlung Altreu – treibende Kraft war der Storchenvater Max Bloesch – den Versuch, den Weissstorch wieder in der Schweiz anzusiedeln.
In Brittnau wurde 1960 versucht, vier Jungstörche aus Algerien auf der alten Turnhalle anzusiedeln. «Dieser erste Versuch misslang», weiss Hartmann, ein zweiter im Folgejahr ebenso. Erst der dritte Versuch 1967 war erfolgreich. «Allerdings wurden die Störche damals in Gefangenschaft gehalten und die Jungstörche erst nach der Erlangung der Geschlechtsreife freigelassen», führt er weiter aus. Weil Störche nicht unbedingt ihrem Partner treu sind, aber ihrem Nest, kehrten sie in der Folge immer nach Brittnau zurück.
Hartmann war 1997 einer der ersten Storchenbetreuer in der Schweiz, welcher damit aufhörte, die Tiere zu füttern. Ein Umdenken hatte damals eingesetzt. «Nicht mehr Zucht und Auswilderung sollten im Mittelpunkt stehen, sondern die Aufwertung des Lebensraums», erläutert er. Für den Weissstorch war es ein Weg zurück zu dem, was er bis in die 1920er-Jahre gewesen war: ein frei lebendes Wildtier.
Aufgaben haben sich verändert
Mit dem Wegfall der Fütterung haben sich auch die Aufgaben für den Storchenvater verändert und reduziert. Die Beobachtung und Datenerhebung ist nach wie vor eine seiner Hauptaufgaben. Eine Aufgabe, die er auch nach fast vier Jahrzehnten noch «unheimlich spannend und bereichernd» findet, obwohl sie recht aufwendig sei, wie er selber sagt. Zudem ist Hartmann auch für die Pflege von Unfalltieren verantwortlich. «Und schliesslich gehört auch noch ein wenig Öffentlichkeitsarbeit dazu», meint er. Sieht man seine leuchtenden Augen, wenn er von «seinen» Störchen spricht, weiss man, dass er das sehr gerne macht.