Sie sind hier: Home > Gesellschaft > Die Moralismus-Show: Über Gutes sprechen ohne es zu tun

Die Moralismus-Show: Über Gutes sprechen ohne es zu tun

Alle Lebensbereiche werden heute moralisiert. Das liegt an den sozialen Medien und unserer doppelter Existenz als analoger Mensch und digitaler Avatar.

Alles Private ist moralisch. Dies ist ein Leitsatz, der längst für unser aller Alltag gilt. Was immer wir sagen oder kaufen, überall werden wir mit dem Tun des (angeblich) Guten konfrontiert. Und immer mehr Bürger fragen sich, wie es so weit gekommen ist. Warum kann man im Supermarkt kein Produkt mehr kaufen, das nicht die Welt retten will? Warum kann man im Freundeskreis nicht mehr kühl diskutieren, sondern fühlt sich ständig gezwungen, seine Tugendhaftigkeit unter Beweis zu stellen?

Der Philosoph Hermann Lübbe beschrieb dieses Phänomen als «politischen Moralismus». Gemeint ist: Es geht nicht mehr darum, im Tun und Denken zwischen Richtig und Falsch, in der Wahrnehmung zwischen Schön und Hässlich, im Wirtschaften zwischen Effizient und Verschwenderisch zu unterscheiden. Stattdessen werden alle Unterscheidungen auf einen begrifflichen Gegensatz zwischen Gut und Böse zurückgeführt. Entweder Du zählst zu den Guten – oder zu den Bösen, ein Drittes gibt es nicht.

Lübbe nannte dies den Triumph der moralischen Gesinnung über die menschliche Urteilskraft und bot eine Erklärung des Phänomens: Der Mensch in der Moderne stürzt sich auf das Moralische, um die wachsende Komplexität der Welt zu reduzieren, die ihn überfordert. Lübbes Punkt: Wenn Du die Welt nicht mehr verstehst, so teilst Du sie in Gut und Böse ein und machst sie dadurch wieder beherrschbar – das ist gleichsam der Reflex eines menschlichen Urinstinkts.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

Doch da bleibt die Frage: Warum ist der Moralismus gerade in den letzten zehn Jahren endemisch geworden? Um dies zu beantworten, bietet aktuell ein weiterer Philosoph, Philipp Hübl, Abhilfe. Sein Titel «Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht» ist das Buch der Stunde.

Der Grund für die Moralisierung aller Lebensbereiche liegt nach Hübl darin, dass wir heute zweimal existieren: einmal als guter alter analoger Mensch und einmal als digitaler Avatar. Was wir im realen Leben sagen, zeigen oder tun, kann aufgezeichnet, kommentiert, gelikt, gefollowt oder gehasst werden. Und diese digitale Verdoppelung schlägt zurück ins herkömmliche Leben. Die grosse Revolution begann mit etwas Unscheinbarem: der Einführung der Like-Bottoms in den sozialen Medien vor 15 Jahren.

Dazu muss man wissen: Der Mensch hat verschiedene Fähigkeiten, um im gesellschaftlichen Statusspiel mitzuwirken: finanzielle, kulturelle, erotische – und eben moralische. Gerade im Zeitalter digitaler Halböffentlichkeit gibt es gute Gründe, vor allem in die eigene (angebliche) Tugendhaftigkeit zu investieren. Denn sie ist billig zu haben und verspricht viel Ertrag; man kann mithin im Moralspektakel mitspielen, ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Billig ist es deshalb, weil in den sozialen Medien nicht die Handlungen zählen, sondern die Sprechhandlungen – die Bekenntnisse, die Verlautbarungen, also die Worte. Und während Handlungen im analogen Leben Ausdruck echter Gesinnung sind, können Worte beliebig täuschen. Viel Ertrag verspricht es deshalb, weil als unangreifbar gilt, wer zu den moralisch Erhabenen gehört, für viele ein erstrebenswertes Ziel.

Der moralische Status ist schnell erreicht, doch muss er danach umso heftiger verteidigt werden – ökonomisch gesprochen: Die Upside ist begrenzt, die Downside hingegen immens. Verteidigt wird der moralische Status, indem einerseits – rein verbal – immer höhere moralische Standards gefordert werden. Und indem anderseits auf allen anderen herumgetrampelt wird: In den sozialen Medien erhöht sich, wer andere erniedrigt. So breitet sich die Zurschaustellung eigener moralischer Reinheit – das Virtue Signalling – am Ende endemisch aus.

Hübl sagt treffend: Niemand fragt «Was soll ich tun?» Alle fragen sich obsessiv «Wie soll ich darüber ­reden?» Hier kippt die Geschichte. Hübl zeigt, wie die Darstellung moralischer Reinheit in den sozialen Medien unser Steinzeit-Gehirn narrt: Wer sich als gut darstellt, braucht noch lange nicht gut zu handeln. Niemand kann das Verhalten im Netz überprüfen. Das Gebaren neuer moralischer Reinheitsfanatiker verkommt zu einer bald nervigen, bald unappetitlichen Moralismus-Show. Die ist ein Bluff. Sobald das Steinzeit-Gehirn dies erkennt, ist die Show zu Ende.