Die Nöte der Frauen mit Mathematik: Margrith Stamm über Geschlechterklischees und Selbstzweifel
Männer haben von Natur aus mehr mathematisches Talent als Frauen. Diese Behauptung des Präsidenten der Harvard University, Larry Summers, hat vor ein paar Jahren zu einem Sturm der Entrüstung geführt. Er musste von seinem Amt zurücktreten.
Doch viele vertreten die Ansicht, Mathematik hätte etwas mit biologischer Tauglichkeit zu tun. Auf den ersten Blick bestätigen die Pisa-Studien solche genetischen Unterschiede. Knaben sind im Durchschnitt aller teilnehmenden Staaten in Mathe besser als Mädchen. Doch es gibt auch Überraschungen. In Westeuropa sind Mädchen und Knaben in Island, Schweden und Norwegen gleich gut. In Finnland sind die Mädchen sogar besser. Das sind genau die Staaten, die auch im International Gender Gap Index besser abschneiden. Er berücksichtigt Einkommensunterschiede, die Beteiligung am Arbeitsmarkt und die Vertretung von Frauen in Spitzenpositionen. Mädchen erreichen offenbar umso bessere Leistungen in Mathematik, je fortschrittlicher das Geschlechterverständnis ist. Daraus lässt sich schliessen, dass mathematische Geschlechtsunterschiede kaum die logische Folge eines Naturgesetzes sein können.
In der Schweiz gibt es deutliche mathematische Geschlechtsunterschiede zuungunsten der Mädchen. Warum ist dem so – trotz gut zwanzig Jahren Kampagnen mit bemerkenswerten finanziellen Aufwendungen? Zwar ist der Anteil junger Frauen in mathematisch-naturwissenschaftlichen Berufen inzwischen etwas angestiegen. Aber der wesentlichste Grund für die Mathematikschwäche des weiblichen Geschlechts dürfte in den Geschlechterschubladen unserer Gesellschaft liegen. Lehrkräfte und Eltern haben oft höhere Erwartungen an die mathematischen Fähigkeiten von Knaben und ermuntern oder loben sie stärker. Darum ist die Überzeugung, «Mädchen sind schlecht in Mathematik und gut in Sprachen» stark verbreitet. Bestätigt sich eine solche sich selbst erfüllende Prophezeiung, gilt dies als normal. Das ist problematisch, weil sich solche Überzeugungen in den Köpfen vieler Heranwachsender im Verlaufe der Sekundarstufe I verankern. Während sich Mädchen in Mathematik weniger zutrauen und mehr Selbstzweifel haben, hält sich die Mehrheit der Knaben für begabter und selbstbewusster – auch wenn dies ihre tatsächlichen Leistungen nicht rechtfertigen. Social Media, vor allem Tiktok, befeuern solche Klischees.
Dies sollte zu denken geben. Doch zu oft wird davon ausgegangen, Eltern und Lehrkräfte hätten Mädchen mit mehr Selbstvertrauen und weniger Selbstzweifeln auszustatten und nicht damit zu beruhigen, sie hätten eben ihre sogenannte Mathematikschwäche von der Mama oder der Tante geerbt.
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Geht es um Geschlechterklischees und Mathematik, ist die wichtigste Frage bisher eher am Rande thematisiert worden: Wie fördert unsere Gesellschaft nicht nur eine positive weibliche Selbsteinschätzung in Mathematik, sondern vor allem das Interesse? Dies kann nicht einfach über individuelle Haltungen, sondern nur über einen gesellschaftlichen Wandel und insbesondere durch Vorbilder geschehen. Dass es hier nicht zum Besten steht, verdeutlicht der aktuelle Kinofilm «Oppenheimer» von Christopher Nolan über den Vater der Atombombe.
In diesem Biopic kommen während 180 Minuten gerade mal zwei Wissenschafterinnen flüchtig vor: Lilli Hornig und Charlotte Serber. Und dies, obwohl sehr viele andere Frauen essenziell zum Gelingen des Vorhabens beigetragen hatten. Eine der nicht Erwähnten ist Lise Meitner. Sie hat sich an der Entwicklung der Atombombe nicht beteiligt und nannte sich später die «Physikerin ohne jedes böse Gewissen». Insofern ist der Film auch ein Muster der Negierung einer mathematisch begabten Frau, die sich trotz Ruhm und Ehre zur Pazifistin entwickelte. Auch so besehen ist der Film eine verpasste Chance.
Margrit Stamm ist Erziehungswissenschafterin und emeritierte Professorin der Uni Freiburg.