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Welche Neutralität soll es denn sein? Fragen und Antworten zum brennendsten Thema der schweizerischen Aussenpolitik

Die rechtliche und die politische Neutralität sind nicht dasselbe. Die Schweiz hat die Neutralität politisch seit jeher flexibel interpretiert. Und sie geriet auch in der Vergangenheit von verschiedener Seite unter Druck.

Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verkünden Politiker in steigender Kadenz Ideen für eine Neuinterpretation der schweizerischen Neutralität. GLP-Nationalrat Beat Flach etwa verlangt, dass die Schweiz künftig Waffen liefern darf an demokratische Staaten, die angegriffen wurden. Doch wie genau charakterisiert sich die schweizerische Neutralität? Ein Erklärungsversuch in fünf Punkten.

1. Seit wann ist die Schweiz neutral?

Die europäischen Grossmächte anerkannten beim Wiener Kongress von 1815 die dauerhafte, selbst gewählte Neutralität der Schweiz. Die «Nichteinmischung in fremde Händel» etablierte sich in der Eidgenossenschaft seit dem 16. Jahrhundert, um nicht zwischen den rivalisierenden europäischen Grossmächten zerrieben zu werden. Innenpolitisch war die Neutralität der emotionale Kitt, der die Schweiz verschiedenen konfessionellen und sprachlichen Gruppen zusammenklebte.

2. Was sagt das Neutralitätsrecht?

Das Neutralitätsrecht, kodifiziert im Haager Abkommen von 1907, besagt im Kern, dass neutrale Staaten kriegsführende Staaten nicht mit Truppen und Waffen unterstützen dürfen. Eine Gesinnungsneutralität gibt es hingegen nicht. So positionierte sich die Schweiz während des Kalten Krieges klar im westlichen Block. Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik sind nicht dasselbe.

3. Ist die Schweiz nicht mehr neutral, weil sie sich den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat?

Rechtlich bleibt sie neutral. So hat es der Bundesrat Deutschland soeben untersagt, Schweizer Munition an die Ukraine weiterzuliefern. Die Übernahme der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland ist ein politischer Entscheid, der das Neutralitätsrecht nicht tangiert. Ein Novum ist das nicht. Neutralität kann man politisch flexibel auslegen. Die Schweiz hat zum Beispiel schon 1990 die UNO-Sanktionen gegen den Irak wegen des Golfkriegs übernommen. Übrigens: Auch General Guisan interpretierte die Neutralität durchaus flexibel. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schloss er eine geheime Militärallianz mit Frankreich: Im Falle eines deutschen Angriffs wären Teile der Schweizer Armee französischem Kommando unterstellt worden.

4. Wann hat die Schweiz die Neutralität strikt interpretiert?

Nach dem Ersten Weltkrieg konstituiert sich der Völkerbund. Die Schweiz musste sich bei der Vorläuferorganisation der UNO nicht an militärischen Aktionen beteiligen, an wirtschaftlichen Sanktionen hingegen schon. Als der Völkerbund wegen des italienischen Überfalls auf Äthiopien Sanktionen gegen die Mussolini-Diktatur verhängte, geriet die Schweiz unter faschistischen Druck. 1938 kehrte die Schweiz von der sogenannt differenziellen (Teilnahme an Wirtschaftssanktionen) zur «integralen» Neutralität zurück. Mit kriegführenden Staaten, so die Maxime, soll der Warenaustausch im bisherigen Umfang im «Courant normal» weitergeführt werden. Christoph Blocher will mit Mitstreitern eine Initiative lancieren, um die integrale Neutralität in der Verfassung zu verankern.

5. Dürfen private Unternehmen Waffen an kriegführende Staaten liefern?

Das Neutralitätsrecht untersagt das nicht. Von 1940 bis 1944 exportierten Schweizer Firmen Waffen und Munition im Volumen von 751,5 Millionen Franken. Der weitaus grösste Teil ging an Nazideutschland und seine Verbündeten. Grosser Profiteur war Waffenfabrikant Bührle. In den Augen der Alliierten avancierte die Schweiz zur Kriegsgewinnerin. Sie setzten Firmen und Personen, die mit Nazideutschland geschäfteten, auf schwarze Listen. Im Washingtoner Abkommen verpflichtete sich die Schweiz unter anderem zur Zahlung von 250 Millionen Franken «Raubgold» an die Alliierten zum Wiederaufbau Europas. Im Gegenzug wurden die Restriktionen aufgehoben. Kurzum: Die Schweiz geriet mit ihrer Neutralitätspolitik während des Zweiten Weltkriegs unter starken Druck. Waffenlieferungen von Privatunternehmen an kriegführende Staaten sind gemäss dem Kriegsmaterialausfuhrgesetz heute nicht mehr möglich. Im letzten Jahr verschärfte das Parlament die Ausfuhrbedingungen. Der Bundesrat kann explizit keine Ausnahmen machen – auch für den Fall, wenn Deutschland Schweizer Munition in die Ukraine weiterschicken will.