Dieser «Rasta-Gate» versteht Kunst nicht
Eine beunruhigende Erregtheit folgt der nächsten. Der Vorwurf der «Cultural Appropriation» hat nach der Musikszene auch das Theater erreicht. Und der Anlass ist haarsträubend: Seit dem Wochenende streitet man sich auf den sozialen Medien, ob die echt falsche Perücke der Kunstfigur Nadeschkin den gefühlten Tatbestand der «kulturellen Aneignung» verletze. Ausgedeutscht heisst das: Die Bühnenkünstlerin Nadja Sieger soll sich mit ihren Kunst-Filzlocken, die sie selbstironisch «Wischmopp» nennt, die Errungenschaft einer marginalisierten Kultur zu eigen machen.
Allein die Vorgeschichte der Anschuldigung spricht Bände. Vor ungefähr zwei Monaten hatte sich jemand auf dem Mailaccount des Duos mit dem bekannten Vorwurf gemeldet. Geflissentlich erhielt er oder sie umgehend zwei persönliche Antworten: «Es geht hier unserer Meinung nach immer in erster Linie um Respekt», schrieben die Beschuldigten unter anderem. Doch sich verletzend und respektlos einer Kultur zu bedienen, «das geht natürlich überhaupt nicht». Darauf blieb der oder die Schreibende stumm, reagierte auch auf Rückfrage des Duos nicht mehr – um schliesslich den ganzen Mailwechsel vor ein paar Tagen auf Instagram zu stellen. Skandal!
Seitdem nehmen Ursus und Nadeschkin keine Stellung mehr. «Es ist alles gesagt, wenn auch nicht von allen», lautet ihre Begründung, die Debatte nicht weiter befeuern zu wollen. Während des Schlagabtausches auf den sozialen Medien standen sie in der Manege des Circus Knie, haben in zwei Tagen fünf Vorstellungen gespielt und eine Videoaufzeichnung gemacht. Die Perücke bleibt oben? Die Antwort ist unmissverständlich: «Selbstverständlich, klar!» Seit dem Frühling und in aberhundert, zumeist ausverkauften Vorstellungen wurde nie eine ähnliche Kritik laut.
Weniger gelassen als die beiden reagiert der Twitterer Mike Müller: «Sorry Leute, die Rasta-Kritik triggert mich, mir ist unwohl dabei.» Twitter-Tycoon Viktor Giacobbo wiederum münzt die Anschuldigung in eine Werbung in eigener Sache um. Er beteuert zu Gunsten der nächsten Eigenproduktion im Casino-Theater in Winterthur: «Alle Frisuren willkommen!»
Und genau darum geht es in der Kunst, sie gehört allen. Und wer schon einmal im Theater war, wird festgestellt haben: Es ist der darstellenden Kunst eigen, dass man sich auf der Bühne der Kostüme und Perücken bedient. Verkleiden ist Verfremden, ist zur Kenntlichkeit entstellen. Perücken wie Kostüme machen deutlich: Theater ist eine Illusion und will eine Illusion erzeugen.
Die Protestfrisur für ein Theater des Protests
Natürlich ist es eine Illusion zu denken, dass der feine Unterschied von echtem Haar und einer Perücke jedem auffallen sollte. Und es ist vermessen, davon auszugehen, dass es leicht sei, das Wesen der Bühnenkunst zu begreifen. Doch ein echter Jux wird die Debatte, wenn man weiss, dass Nadeschkins Markenzeichen, ihr «Wischmopp», vor rund 15 Jahren tatsächlich noch echt war. Dreadlocks galten einmal als Protestfrisur, sie waren sozusagen der Irokesenschnitt der späteren Punks. (Wäre der Irokesenschnitt eigentlich eine «kulturelle Aneignung»?) Denn als Protest gegen die Hochkultur verstehen Ursus und Nadeschkin seit je ihr Theater, das den Wurzeln des Strassentheaters und der Improvisation die Treue hält.
Der Circus Knie indes hält offenbar von der Aufregung wenig. Die Frage, wie die Perücke zu verstehen sei, ob man sie allenfalls zensiere, blieb ohne Antwort. Man befinde sich mitten im Aufbau in Genf und könne aus Zeitgründen keine Stellung beziehen.
Mike Müller: «Die Phobie ist massgeschneidert»
Das kann ein anderer, und wie er kann. Mike Müller meint auf Anfrage zum «Rasta-Gate»: «Es ist keiner. Jens Balzer hat in der ‹Republik› zu Reggae und Rasta alles gesagt. Für die Satire ist die Rasta-Phobie massgeschneidert, weil man der Sache nur mit Spott gerecht wird. Spott für all die Rechten, die noch nie an einem Reggae-Konzert waren und jetzt den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören; Spott für die Super-Woken, die das Wort ‹Trigger› schon mal in der Therapie gehört haben, aber nicht so recht wissen, was sie damit anfangen sollen.»