Weshalb die USA und China um die winzige Insel Guam im Pazifik buhlen
Im Wettbewerb mit China seien die kommenden zehn Jahre «das entscheidende Jahrzehnt», so heisst es im neuen Strategiepapier des Weissen Hauses. Dass letzteres so knapp vor dem Parteitag in China am Sonntag veröffentlicht wird, ist sicher kein Zufall.
Denn so sehr die US-Regierung danach strebt, «verantwortungsbewusst zu konkurrieren», so klar positionieren sich die Amerikaner derzeit in der Asien-Pazifik-Region. Letzteres zeigte nicht zuletzt der US-Pazifik-Gipfel Ende September in Washington, bei dem US-Präsident Joe Biden pazifischen Staats- und Regierungschefs grosszügige Finanzhilfen versprach.
Auch die wiederholten Zusicherungen Bidens, die 23 Millionen Taiwanesen bei einem chinesischen Angriff militärisch zu unterstützen, haben den Fokus auf eine Region gerichtet, die noch vor wenigen Jahren eher selten im Rampenlicht stand. Inzwischen spielen die kleinen Pazifikstaaten wie auch die Verbündeten in der Region – allen voran Japan und Australien – eine zunehmend wichtige Rolle für Washington.
Die Drehscheibe im Pazifik
Aber auch eigene Territorien in der Region sind nicht mehr die vergessenen «Outposts» von gestern. Die Pazifik-Insel Guam, die zum Staatsgebiet der USA gehört, ist zu einer Art Front gegen China geworden. «Guam ist sehr wichtig für uns», betonte Michael Green, Leiter des United States Studies Centre der University of Sydney, bei einem Briefing am Freitag. Nicht zuletzt sei die Insel wichtig, um im Konfliktfall eine grössere Verteilung der Start- und Landebahnen zu haben, wie der Experte erklärte.
Guam ist schon heute bestens aufgestellt: Zwar leben auf dem weniger als 550 Quadratkilometer grossen Eiland gerade mal 170’000 Menschen, doch die Insel verfügt über wichtige US-Luftwaffen- und Marinestützpunkte, die seit Langem Drehscheibe für Amerikas Verbündete sind. Der Luftwaffenstützpunkt Andersen Air Force Base, der einen Grossteil des nördlichen Endes der Insel einnimmt, beherbergt über 8000 Angestellte, Familienangehörige und Auftragnehmer. Laut Medienberichten sollen zudem 5000 Marinesoldaten von einer Basis im japanischen Okinawa nach Guam umgezogen werden.
Derzeit bildet das US-Militär auf Guam US-Truppen aber auch verbündete Militärs vor Missionen aus. Das Training reicht dabei vom Kampf bis zum Bau von Flugplätzen. Als die USA Ende August zwei Navy-Kreuzer durch die sensible Meerenge von Taiwan schickte, legten kurz danach zwei australische Kriegsschiffe zusammen mit Schiffen aus Japan, Kanada und Südkorea am Marinestützpunkt in Guam an.
Obwohl es auch US-Stützpunkte in Asien gibt, die näher am Brennpunkt Taiwan liegen, darf die Bedeutung der Insel nicht unterschätzt werden. Denn als amerikanisches Territorium erlaubt sie einen militärischen Aufbau, der für Stützpunkte auf fremdem Boden deutlich schwieriger wäre. Zudem liegt die Insel strategisch günstig – 2700 Kilometer östlich von Taiwan und etwa 2000 Kilometer nördlich von Papua-Neuguinea.
Sollte es zu einer militärischen Konfrontation um Taiwan kommen, so können US-Flugzeuge und -Schiffe Asien von hier aus viel schneller erreichen als von Hawaii oder dem US-Festland. Nicht umsonst spielte Guam während des Vietnamkriegs in den 1970er Jahren bereits eine zentrale Rolle für die Bomber der US-Air Force.
In Reichweite Chinas und Nordkoreas
Letzteres macht die Insel selbst aber auch verwundbar: Chinesische wie auch nordkoreanische Raketen könnten das Eiland ohne Probleme erreichen. Chinas anscheinend erfolgreicher Test einer neuen Hyperschallwaffe im vergangenen Jahr machte die Verteidigungsoptionen nochmals dringlicher. Chinesische Staatsmedien haben bereits davor gewarnt, dass Guam in Reichweite sei, und Analysten glauben, dass die Stützpunkte essenziell wären, sollte China Taiwan in den nächsten zwei Jahrzehnten angreifen.
«In jedem militärischen Notfall, der Taiwan betrifft, wäre Guam eine der wichtigsten Tankstellen, Reparaturwerkstätten und eine logistische Basis», bestätigte auch der Politikwissenschaftler Kenneth Kuper von der Universität von Guam vor Kurzem im Interview mit dem australischen Sender ABC.
Schon heute verfügt Guam über ein Raketenabwehrsystem namens THAAD, um die Insel vor Raketenangriffen aus Asien zu schützen. Ein neues Raketenabwehrsystem soll zudem eine «360-Grad»-Abdeckung ermöglichen. Ausserdem sind weitere U-Boote und Schiffsreparaturanlagen für die Insel in Planung.
Keine vergleichbare Situation seit dem Zweiten Weltkrieg
Guam selbst ist schon häufiger militärischer Zankapfel gewesen, nicht zuletzt wegen seiner strategischen Position im Pazifik. Die seit 1898 zu den USA gehörende Insel wurde 1941, kurz nach dem Angriff auf Pearl Harbor, von den Japanern erobert und blieb bis Juli 1944 in deren Gewalt. An diese harte Besatzungszeit kann sich die ältere Bevölkerung durchaus noch gut erinnern.
Doch seit dem Zweiten Weltkrieg spielte Guam im Weltgeschehen deutlich seltener eine Rolle. Im Januar 1972 ging der Inselname um die Welt, da der japanische Unteroffizier Shōichi Yokoi auf der Insel entdeckt wurde, nachdem er sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs 28 Jahre lang dort versteckt gehalten hatte.
Zuletzt machte die Insel 2017 Schlagzeilen. Damals drohte Nordkorea der Bevölkerung auf Guam mit einem Angriff. Das Heimatschutzministerium gab damals bereits Empfehlungen an die Bevölkerung heraus, wie die Bürger sich im Angriffsfall schützen könnten. So erklärte die damalige Sprecherin des Heimatschutzministeriums, Jenna Gaminde, lokalen Medien, dass nordkoreanische Raketen etwa 14 Minuten brauchen würden, um die Insel zu erreichen. Auch China testete 2019 eine Rakete, die den Spitznamen «Guam Killer» erhielt, nachdem sie die Reichweite hätte, Guam zu treffen.
Wie realistisch ein Angriff aus Nordkorea oder China tatsächlich ist, lässt sich schwer einschätzen. Der US-Experte Green gibt einem Angriff auf Taiwan, der zu einem grösseren Konflikt und damit auch einem potenziellen Angriff auf Guam führen könnte, derzeit nur eine zwei- bis dreiprozentige Chance. «Aber er ist realistischer geworden, als er es je zuvor war», meinte Green. Eine vergleichbare Situation habe es in der Region seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben.