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Grand Prix Literatur geht an die Schweizer Autorin Fleur Jaeggy

Die 84-jährige Schriftstellerin erhält eine der bedeutenden Auszeichnungen des Landes für ihr ebenso beglückendes wie verstörendes Gesamtwerk.

Was sie schreibt, kommt aus der Kälte – nun erhält Fleur Jaeggy eine Wärmelampe: den Grand Prix Literatur, den ihr die Eidgenossenschaft für ihr schmales, aber imposantes Gesamtwerk verleiht. Ihre Prosa, so die Jury, sei trotz ihrer scheinbaren Kälte bewegend, und zwar «durch die gekonnte Wiedergabe der feinsten Nuancen und der düstersten, verborgensten Seiten der menschlichen Seele».

Jaeggy befasse sich mit «tiefgründigen, schmerzhaften und beunruhigenden» Themen wie Einsamkeit, Entfremdung, gestörten Familienverhältnissen und zwiespältigen oder obsessiven Beziehungen. Oft sei es schwierig, in ihren Texten «die Grenzen zwischen Freundschaft, Liebe, Besessenheit und Abweisung zu erkennen».

Oft in Internate im Appenzell, am Bodensee oder in Zug abgeschoben

Früh war da in ihrer Jugend ein Gefühl der Verlassenheit: Fleur Jaeggy kommt zwar aus einem gutbürgerlichen Zürcher Milieu: Ihr Vater war ein Deutschschweizer Anwalt, ihre Mutter Italienerin. Als Jaeggy fünf war, trennten sich aber die Eltern und überliessen sie einer betagten Verwandten im Tessin. Nach drei Jahren setzte die Verwandte sie ohne Vorwarnung vor die Tür. Nun kam sie als Protestantin in ein streng katholisches Mädcheninternat, dem weitere Internate im Appenzell, am Bodensee und in Zug folgten.

Als Zögling im Appenzell befand sie sich in der Nähe der Anstalt, in der Robert Walser eingesperrt war. Sie kannte ihn damals nicht. Trotzdem ist er ein Seelenverwandter von Jaeggy geworden. Wie er raut und schlitzt sie das Idyllische und Liebliche auf, sodass die Abgründe darunter sichtbar werden.

«Ein Gefühl der Identität … Ich habe es noch nie erlebt»

Kindheit und Erwachsenenwelt gehen bei Jaeggy ineinander über. Kinder lieben und quälen sich genauso wie die Erwachsenen, die sie ins Internat abgeschoben haben. Die 14-jährige Protagonistin in Jaeggys international gefeiertem Hauptwerk «Die seligen Jahre der Züchtigung» verstösst auf grausame Weise eine 10-Jährige, die ihr einen Liebesbrief geschrieben hat und von ihr beschützt werden will. Die Ältere bedauert zugleich die Verstossung der Jüngeren, weil sie damit eine «Sklavin» verliert.

Fleur Jaeggys 1989 erschienenes Hauptwerk «Die seligen Jahre der Züchtigung».
Suhrkamp

So beurteilen sich die Teenager-Töchter. Sie unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse, Zärtlichkeit und Gewalt, Leben und Tod, Wahn und Wirklichkeit und auch nicht zwischen den Geschlechtern. Die Autorin betont in den seltenen Interviews, die sie gegeben hat, dass sie nie zwischen männlich und weiblich unterscheide. «Ein Gefühl der Identität … Ich habe es noch nie erlebt.» Manchmal halte sie sich «für eine Person ohne Persönlichkeit».

Ingeborg Bachmann hat sie zum Schreiben gebracht

In einem anderen Interview sagt sie: «Man sollte in seiner eigenen Leere sein. Leere ist Stille. Einsamkeit. Eine Abwesenheit von Beziehungen. Die Leere ist eine Pflanze, die ständig gegossen werden muss.» Ein Satz, wie nur Fleur Jaeggy ihn äussern kann. Sie klingt da wie eine Seelenverwandte von Ingeborg Bachmann, mit der sie gut befreundet war. Bachmann hat Jaeggy in den 1960er-Jahren überhaupt erst zum Schreiben gebracht.

Fleur Jaeggys späte Prosa.
Suhrkamp

Aber weder Bachmann noch Jaeggy haben immer zurückgezogen gelebt. Beide führten phasenweise ein glamouröses Leben. In jungen Jahren war Jaeggy Model gewesen. Seit 1968 wohnte sie im Zentrum von Mailand, war mit Roberto Calasso, einem der prominentesten Autoren und Verleger Italiens, verheiratet und verkehrte mit Berühmtheiten wie dem russisch-amerikanischen Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky oder dem britischen Neurologen und Starautor Oliver Sacks.

Über beide wie auch über Ingeborg Bachmann schreibt sie in ihrem 2024 auf Deutsch erschienenen Erzählband «Ich bin der Bruder von XX» einzigartige Miniaturen. Brodsky wie Sacks hätten kaum die Kälte gespürt und im Fall von Sacks sogar die Hitze gehasst und immer die Fenster aufgerissen, während Fleur Jaeggy sich vom Frost verfolgt glaubte, und auch ihre Gefühle hielt sie stets für «recht kühl». Eine nette Untertreibung: Die Gefühlslage in ihren Büchern ist meist unter null.

Der Suhrkamp Verlag hat mit einer neuen Werkausgabe zur Wiederentdeckung Fleur Jaeggys beigetragen, um die es in den ersten zwanzig Jahren dieses Jahrhunderts recht still geworden war, sodass man nicht wusste, ob sie überhaupt noch lebt. Nun aber lässt sich ihr äusserst lebendig gebliebenes Gesamtwerk wieder bewundern.