Im Grossen und Ganzen sind die Schweizer Weltmeister – aber noch nicht im Kleinen
Siege gegen die Grossen – und dazu zählt ja Weltmeister Kanada – hatten in den letzten Jahren ein ähnliches Grundmuster: Die Hockey-Götter waren mit uns. Wir kassierten kaum Strafen und die Torhüter hexten. Kurzum: Wir spielten unser bestes Hockey. Hockey im Sonntagsanzug inklusive Krawatte und Boschettli.
Und nun ein grosser Sieg gegen den Weltmeister im Werktagskleid und lange Zeit ohne Krawatte und Boschettli.
Leonardo Genoni war anfänglich ein gewöhnlicher Goalie. So in der Art, wie wir dann wohl nach seinem Rücktritt Torhüter bei der WM haben werden. Strafen kassierten wir zumindest im ersten Drittel zu viele. Eine Fünfminutenstrafe schon in der 9. Minute. Weil Timo Meier im Übermut Zach Whitecloud in die Bande genietet hatte. Und Glück hatten wir keineswegs im Übermass. Kommt dazu: Ein Tor von Nico Hischier (zum 1:0) wird zurecht annulliert. Er hatte die Scheibe beim Goalie wieder hervorgestochert.
Unter all diesen Voraussetzungen haben die Schweizer bei einem Titelturnier einen Grossen noch nie bezwungen. Mit so vielen «Wenn aber» in der Startphase reichte es in der Vergangenheit lediglich gegen Italien, Frankreich oder Kasachstan dann noch zum Sieg.
Warum sind die Kanadier doch besiegt worden? Und zwar richtig besiegt: So frustriert waren sie nach einer Niederlage gegen uns noch selten. Warum fanden die Schweizer und nicht der Weltmeister nach einem wilden ersten Drittel den Weg zum Sieg? Was machte also die Differenz? Der Mut, das Selbstvertrauen und die spielerische Klasse der Schweizer.
Dreimal in Rückstand im ersten Drittel
Dreimal hintereinander einen Rückstand gegen die Kanadier subito ausgleichen, auch ein Tor in Überzahl wegstecken (zum 1:2) – das geht nur mit «unzerstörbarem» Selbstvertrauen. Die raue Spielweise der Kanadier aushalten und mit gleicher Münze heimzahlen – dafür braucht es Mut. Und sechs Tore gelingen nur mit spielerischer Klasse.
Captain Nico Hischier war der beste, kompletteste, smarteste Spieler auf dem Eis. Einfädler und Vollstrecker mit einem Tor und einem Assist. Ein Leitwolf mit Weltklasseformat. Bescheiden wie es seine Art ist, sagt er nach dem Spiel: «Nicht meine Leistung zählt. Das Resultat ist wichtig.» Und spricht dann auf die Frage, nach den Gründen für den starken Auftritt der Schweizer einen bemerkenswerten Satz mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit: «Wir sind auch ein starkes Team.» Es ist das gesunde neue Selbstverständnis der neuen Spielergeneration.
Auch der äussere Rahmen war speziell: In einem solchen Tollhaus haben die Schweizer seit drei Jahren nicht mehr gespielt: Die Arena war 5676 Fans ausverkauft – und mindestens 90 Prozent waren aus der Schweiz angereist. Ein tolles Spiel, ein rauschendes Hockeyfest und Captain Nico Hischier sagte: «Die Fans haben uns viel Energie gegeben.»
In einem gewissen Sinne nehmen die Schweizer mit ihrem präzisen Tempospiel in lichten Momenten den Platz der vom Turnier ausgeschlossenen Russen ein. Die Schweden und Finnen sind ja mehr auf Schablonen-Hockey spezialisiert. Die Schweizer zelebrieren phasenweise das spektakulärste, attraktivste Hockey dieser WM – wie früher die Russen.
Die Automatismen funktionieren: Gegen Kanada braucht es mehr als taktische Hosenknöpfe, um einen Fünf-Minuten-Ausschluss zu überstehen. Kanadas Cheftrainer Claude Julien sagte nach dem Spiel, das Versagen in diesem Fünf-Minuten-Powerplay habe sein Team verunsichert. «Solche Spiele können auch die Augen öffnen und wir müssen die Lehren daraus ziehen.»
Was bei den Schweizern auch beeindruckte: Sechs verschiedene Torschützen – drei Treffer durch Verteidiger, drei durch Stürmer – sind ein Zeichen für die wohl grösste offensive Ausgeglichenheit, die wir je bei einer WM hatten. Und für eine gute Balance zwischen Pausenplatz- und Schablonen-Hockey.
Der Feinschliff fehlt noch
Werden wir nun also Weltmeister? Im Grossen und Ganzen dürfen wir sagen: Ja, das ist nun möglich. Aber wir sind noch nicht Weltmeister nicht im Kleinen: Was jetzt noch fehlt, ist der Feinschliff. Die Justierung des Spiels. Es braucht dazu nicht mehr den grossen Universalschraubenschlüssel. Die Nagelfeile reicht. Wenn Leonardo Genoni entscheidet, Weltmeister zu werden, so wie er nach dem ersten Drittel entschieden hat, das Spiel gegen die Kanadier zu gewinnen und keinen Treffer mehr zugelassen hat und so wie er im Final gegen die ZSC Lions entschieden hat, nun alle vier Partien zu gewinnen – dann werden wir Weltmeister.
Am Ende läuft es auch auf die Frage hinaus, ob Patrick Fischer seine Jungs so im Griff hat, dass sich keiner mehr eine Disziplinlosigkeit oder eine taktische Unaufmerksamkeit leistet wie jene, die gegen die Kanadier in Überzahl zum 1:2 geführt hat. Den Schweizern bleiben zwei weitere Gruppenspiele gegen Frankreich (Sonntag, 19.20 Uhr) und Deutschland (Dienstag, 11.20 Uhr) um weiter an den Details zu feilen. Damit wir dann auch im Kleinen parat sind, Weltmeister zu werden.
Dass es gelungen ist, das wilde Spektakel im zweiten Drittel zu beruhigen, die Fehlerquote zu senken, keinen Treffer mehr zuzulassen und doch drei Tore zu erzielen, ist ein gutes Zeichen für den Einfluss des Coaches.
Meiers Tor aus 60 Metern
Zur Feier des Tages passt, dass Andres Ambühl in seinem 120. WM-Spiel (er ist nun Rekordhalter) beim statistischen Siegestreffer (beim 4:3) von Nico Hischier auf dem Eis war. Und die Krönung war der «Rekord-Treffer» von Timo Meier. Er trifft von hinter der eigenen Torlinie aus (!) ins leere kanadische Netz zum 6:3. Sozusagen ein «Hole-in-one» in der Golfsprache.
Nun mag ein Treffer ins leere gegnerische Tor auf den ersten Blick eine einfache Sache sein. Aber von hinter dem eigenen Tor aus auf eine Entfernung von gut 60 Metern zu treffen und den Puck so scharf zu schiessen, dass kein gegnerischer Spieler ihn mehr einholen kann – das ist eben schon ein Kunststück. Timo Meier überlegt eine Weile und sagt dann, er könne sich tatsächlich nicht erinnern, je so einen Treffer erzielt zu haben. «Vielleicht im Training.» Und bringt es auf den Punkt: «Hauptsache, der Puck war drin…»