
Wir haben den Topskorer verloren – na und? Wie Trainer Lars Leuenberger Gottéron auch nach Ausfällen auf Finalkurs hält
Nie sind die Zeiten für tapfere Hinterbänkler, übersehene Talente, Nonkonformisten oder «Graubärte» besser als während der Playoffs. Sie sind sehr oft dazu in der Lage, verletzungsbedingte Ausfälle der Stars wettzumachen.
Eine «Milchbüchleinrechnung» erklärt, warum das so ist und der Ausfall von einem oder mehreren Schlüsselspielern während der Playoffs noch kein Grund ist, in eine Depression zu verfallen.
Kein Topskorer, kein Problem
Die «Milchbüchleinrechnung» ist ein in unserem Land verbreiteter Begriff für eine eigentlich naive Berechnung oder Argumentation. In unserem Fall enthält sie viel Weisheit und Wahrheit und geht so: Wenn ein wichtiger Spieler durch Blessuren oder Sperren ausfällt und dafür alle 20 Feldspieler plus der Torhüter mindestens 10 Prozent zulegen, um seine Abwesenheit zu kompensieren, dann haben wir 110 Prozent mehr Leistung.
Ist diese «Milchbüchleinrechnung» so einfach? Am Beispiel von Gottéron können wir aufzeigen, dass es tatsächlich so sein kann. Bereits nach zwei Viertelfinalpartien gegen den SC Bern verliert Gottéron mit Jacob de la Rose seinen drittbesten Skorer durch eine Verletzung. Im zweiten Halbfinalspiel gegen Lausanne erwischt es mit Lucas Wallmark auch noch den Topskorer.
Aber Gottéron hat den SCB in sieben Spielen aus den Playoffs gekippt und führt im Halbfinal gegen Lausanne 3:2. Mit einem Sieg heute Abend kann Gottéron zum 5. Mal nach 1992, 1993, 1994 und 2013 in den Final einziehen – und erstmals Meister werden. Weil mutige Hinterbänkler, «Graubärte» und Nonkonformisten über sich hinausgewachsen sind und Spieler eine neue Rolle übernommen haben. Wir haben den Topskorer verloren – na und?
Zwischen neuen Rollen und «Graubärten»
Das übersehene Talent: Jan Dorthe (19) ist ein Gottéron-Junior, der nach einem Lehrjahr in Schweden im letzten Frühjahr wieder heimgekehrt ist. Dass er in einer Playoff-Verlängerung die Entscheidung herbeiführen könnte, schien so unwahrscheinlich wie ein Comeback von Dino Stecher, dem Finalgoalie von 1992, 1993 und 1994.
Und doch: Er hat in der 82. Minute das 4. Halbfinalspiel gegen Lausanne mit dem Verlängerungstreffer zum 4:3 entschieden. In seiner erst 3. Playoffpartie. Während der Qualifikation hatte er in 36 Partien zwei Tore beigesteuert. Jan Dorthe ist nur zum Zuge gekommen, weil offensive Titanen wie Lucas Wallmark und Jacob de la Rose fehlten.

Bild: Til Buergy / Keystone
Eine neue Rolle: Samuel Walser ist einer der besten Defensivstürmer der Liga und hoch dekoriert: 2015 Meister mit Davos. Diese Saison hat er in der Qualifikation in 52 Partien als offensiver Hinterbänkler einen einzigen Treffer erzielt. Nun sind es in den Playoffs in zwölf Spielen bereits vier. Weil er nach dem Ausfall der beiden ausländischen Stürmer mehr offensive Verantwortung übernimmt. Durchaus möglich, dass er von Patrick Fischer als Center nach 2016 zum zweiten Mal ins WM-Team berufen wird.
Der Nonkonformist: Während der Qualifikation ist Verteidiger Yannick Rathgeb von Trainer Patrick Emond zeitweise auf die Tribüne strafversetzt worden. Der neue Trainer Lars Leuenberger hat diese unfassbare Torheit korrigiert und in den Playoffs rockt der Nonkonformist die blaue Linie: In elf Playoff-Partien hat Yannick Rathgeb schon mehr Tore erzielt (4) als in 44 Qualifikationsspielen (3). Ohne die defensiven Pflichten zu vernachlässigen: Die Plus-Minus-Bilanz ist in den Playoffs (+6) nämlich besser als in der Qualifikation (+1).
Die «Graubärte»: Captain Julien Sprunger ist im Januar 39 geworden. In den Playoffs ist er dominanter (12 Partien/7 Punkte) als in der Qualifikation (52/23) und mahnt ein wenig an Jaromir Jagr oder Gil Montandon.

Bild: Laurent Daspres/Freshfocus
Der Trainer ist entscheidend
Gottéron ist ein perfektes Beispiel dafür, wie es möglich ist, Rückschläge zu verkraften, wenn Spieler aufstehen, die sonst nicht im Rampenlicht stehen. Und wie wertvoll Erfahrung in den Playoffs sein kann. Die Schlüsselfigur bei solchen erfolgreichen «Milchbüchleinrechnungen» ist der Trainer.
Lars Leuenberger («Gottéron-Napoléon») hat nicht nur eine Antenne für Formstand und Energiehaushalt seiner Männer. Er spürt auch im Verlauf eines Spiels, wer «heiss» ist, auf wen er setzen kann – und lässt dann eben in der Verlängerung Jan Dorthe laufen, und der Junior trifft zum Siegestor.