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Robert Hunger-Bühler übt Kritik – «Im Theater herrscht eine riesige Angst: Was darf man noch?»

Er ist ein Star im Film und auf Bühnen.  Jetzt geht der Robert Hunger-Bühler hart ins Gericht mit seinesgleichen. Am Kurtheater Baden spielt er eine Frau und gastiert mit seinem international gefeierten Solo «Anne-Marie die Schönheit» von Yasmina Reza.

Herr Hunger-Bühler, was ist Ihr Erfolgsgeheimnis? Die meisten Kulturveranstaltungen suchen verzweifelt nach Publikum, Sie spielen Ihren Soloabend vor vollen Sälen.

Robert Hunger-Bühler: Ich habe das Glück, mit «Anne-Marie die Schönheit» von Yasmina Reza eine analoge, physisch erlebbare Geschichte erzählen zu können, die man im Fernsehen so nicht sehen kann. Es steht ein schwitzender Mensch auf der Bühne, eine Frau, der man von A bis Z folgt. Das entspricht der Sehnsucht des Publikums, es will Geschichte hören!

Für Sie finden auf Theaterbühnen zu wenig physische Erlebnisse statt?

Ohne zu generalisieren, das glaube ich. Das Theater leidet an einer gewissen Aseptik. Man identifiziert sich nicht mehr mit den Figuren. Das Spiel, bei dem man sich in einen anderen Menschen verwandelt, ist in den sogenannt modernsten Theatern ein einziger Parcours von Verbotsschildern. Die muss man auf den Proben umschiffen, bis man zur Premiere kommt. Und dann kommt, meistens, meines Erachtens etwas zustande, was dem Publikum vermittelt: Theater ist nicht mehr notwendig.

Bitte ganz konkret: Welche Verbote werden Ihnen auf Proben zugemutet?

Der mir sehr liebe und nahe Freund Milo Rau lud mich ein, im «Tell» am Schauspielhaus Zürich den Gessler zu spielen. Dann zogen sich die Castings immer mehr in die Länge, für mich hatte er keine Zeit, und es schien mir, als ob er mich schonen wollte vor dem, was da eigentlich passiert. Das Theater hat ihm eine Art Fussfesseln angelegt. Ich fühlte mich an den Proben schliesslich sehr unwohl, habe mit ihm das Gespräch gesucht, und er meinte, dass er an meiner Stelle gehen würde.

Können Sie diese «Fussfesseln» benennen?

Es existiert eine riesige Angst vor der Frage, und die führt zu Misstrauen: Was darf man noch machen? Abgesehen davon, dass man komisch angeschaut wird, wenn man mehr Erfahrung hat und älter ist. Es gibt untereinander eine starke Abgrenzung. Das schürt Misstrauen. Man versucht ästhetische Neuerungen, die inhaltlich aber überhaupt nichts bringen.

Die Mitwirkung von Laienspielern, einem eritreischen Sans-Papiers, einem ehemaligen Verdingkind und anderen «Spezialisten des Alltags» hat bei Milo Raus «Tell» zu nichts wirklich Neuem geführt?

Vorher exkludierte Menschen müssen heute mehr zum Zuge kommen! Jede, jedes und jeder muss mitreden können. Tatsache ist aber, dass diese Art von Basisdemokratie von oben, in diesem Fall am Schauspielhaus Zürich von zwei Herren, gesteuert wird. Es entsteht ein Wettbewerb: Wer ist der, die, das «Wokeste»? Ich meine, bei dieser Arbeitsweise gilt das Grundrüstzeug der Schauspielerei, das Handwerk, ihre Kunst, nicht mehr viel. Im Vordergrund steht eine Art von diversem Type-Casting!

Sie denken, Ihr Unbehagen sei auch das Unbehagen des Publikums, das fernbleibt?

Ja, das hat ursächlich damit zu tun. Nach Corona müssten die Leute ja wieder ins Theater kommen. Ich habe gehört, dass man am Theater Basel nicht die Schwierigkeiten wie in Zürich hat. Womöglich bewegen sich dort die Theaterkünstler verführerischer auf die Zuschauer zu. Wir müssen uns jeden Abend dem Publikum stellen, und wenn es nicht mehr kommt, haben wir etwas falsch gemacht, nicht das Publikum. Aufgestülpte Programmatik hat das Theater noch nie weitergebracht. In Zürich werden keine Stücke mehr gezeigt, sondern ausschliesslich Fassungen «nach». Und, ich finde es ja toll, dass zwei Frauen allein das Drama «Ödipus» spielen, aber das kann doch kein grundsätzliches Programm sein.

Herr Hunger-Bühler an der Spitze eines grossen Schweizer Theaters, was würde er anders machen?

Jedes gute Warenhaus hat es schon lange begriffen, es führt verschiedene Brands. Alle sollen bedient werden: gross, klein dick, dünn, alt, jung. Ein Theater muss verschiedene Segmente bringen, es muss zum Beispiel auch wieder den Mut haben, eine gute Boulevardkomödie vom Blatt zu spielen. So hätte man den Saal rappelvoll und man könnte dann in Ruhe sein sinnlich-brachiales Herzens-Theater einstreuen.

Wie sieht Ihrer Einschätzung nach die deutschsprachige Theaterlandschaft in zehn Jahren aus?

Ich bin oft in Amerika, wenn dort eine Produktion keinen Erfolg hat, ist sie weg. Und hier, ich finde es ja grossartig, werden am Schauspielhaus Zürich pro Jahr rund 40 Millionen Franken Subvention gelöffelt. Das ist paradiesisch. Und in diesem Paradies fragen sich die Theaterschaffenden seit drei, vier Jahren, wer sie sind. Das ist doch unglaublich.

Wären Sie heute jung, Sie gingen wieder zum Theater?

Ja! Denn ich glaube, was heute passiert, ist eine leider länger anhaltende Zeiterscheinung. Früher oder später wird wieder ein Theater stattfinden, das wieder kathartisch um sich greift. Wenn ich um mich schaue, komm ich mir, um mit Dylan zu enden, jünger vor als früher.