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Erdogan stichelt gegen den ESC – und gegen Nemo

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan findet den Sieg von Nemo am ESC so anstössig, dass er ihn sogar zum Thema in seinem Kabinett macht.

Was das mit den Schuhen von Emine Erdogan zu tun hat und warum die Haltung der Türkei zum ESC sinnbildlich ist für die LGBTI*-Rechte im Land:

Erdogan schiesst gegen Nemo

Recep Tayyip Erdogan hält die konservativen Familienwerte fast so hoch wie seine Frau Emine ihre Absätze.

Um vor dem türkischen Volk zu betonen, wie ernst es ihm mit seinem Konservatismus ist, wetterte Präsident Erdogan am Montag im Anschluss an die Kabinetts-Sitzung gegen das Schweizer Musik-Talent Nemo.

Dies nicht etwa, weil es Nemo genauso schwindelerregend mag wie Emine …

Nemo saust auf einer Drehscheibe im Kreis auf der Suche nach der eigenen Geschlechtsidentität.
Bild: Martin Meissner/AP

… sondern weil Nemo ein «trojanisches Pferd der sozialen Korruption» sei, wie Erdogan findet. Und ohnehin sei der gesamte Eurovision Song Contest (ESC) eine Veranstaltung, die die «Geschlechtsneutralisierung» fördere und somit die traditionelle Familie bedrohe.

Dass die traditionelle Familie in der Türkei derzeit leidet, wurde erst vergangene Woche in Zahlen bekannt gegeben. So ist die Geburtenrate des Landes im Jahr 2023 auf 1,51 Kinder pro Frau gesunken. Das sei historisch tief und komme einer «existenziellen Bedrohung» für die Türkei gleich, so Erdogan in seiner Rede vom Montagabend vor dem Kabinett.

Bereits 2016 sagte er in einer Rede: «Starke Familien führen zu starken Nationen.» Damals erklärte er auch, dass jede türkische Frau mindestens drei Kinder haben sollte. Und er behauptete, dass die Türkei auch viel unternommen habe, damit Frauen Mütter und arbeitstätig sein können.

Doch wenn man genau hinschaut, dann haben Erdogan und seine Politiker wohl nicht genug getan für die Familien und Mütter im Land. Denn die derzeitige Geburtenflaute lässt sich tatsächlich mit Erdogans Politik erklären – und nicht etwa mit Nemos Geschlechtsidentität.

Die Türkei bildetdas Schlusslicht aller OECD-Staaten, was die Unterstützung von Familien angeht. Im Jahr 2019 wurden nur 0,2 Prozent des BIP (gesamtes BIP 2019: 761 Milliarden USD) als finanzielle Unterstützung für Familien aufgewendet und 0,3 Prozent des BIP in Angebote für Familien investiert.

Türkinnen schieben Kinderwagen durch einen Basar in Istanbul.
Bild: Keystone

Zum Vergleich: Die Schweiz investierte im gleichen Zeitraum 1,2 Prozent des BIP (gesamtes BIP 2019: 721,4 Milliarden USD) als finanzielle Unterstützung für Familien, 0,5 Prozent in Angebote für Familien und weitere 0,5 Prozent des BIP in Steuererleichterungen für Familien. Damit tummelt sich die Schweiz im Mittelfeld. Spitzenreiter bei den OECD-Staaten, wenn es um die Unterstützung von Familien aus den öffentlichen Ausgaben geht, sind Frankreich, Schweden und Luxemburg.

Gleichzeitig ist die Inflation in der Türkei seit Jahren astronomisch. Auch im April wurde dieser Trend nicht gebrochen: Waren und Dienstleistungen kosteten durchschnittlich 69,80 Prozent mehr als im Vorjahr. Betroffen von den steigenden Preisen sind auch Lebensmittel.

Erdogan hat mit seiner Frau Emine übrigens zwei Töchter und zwei Söhne. Seine Jüngste, Sümeyye, trägt manchmal sogar Sneaker:

Sümeyye Erdogan mit Ehemann Selcuk Bayraktar im Jahr 2018. Sümeyye hat in den USA studiert.
Bild: Anadolu

Die Türkei und die trojanischen Pferde am ESC

Die Türkei nahm bislang 34 Mal am Musikwettbewerb teil. 2003 holte Sertab Erener sogar den Sieg mit dem Hit «Everyway That I Can» (zu Deutsch: auf jede erdenkliche Weise).

Sertab Erener zeigt neckisch Bein beim ESC.
Bild: Keystone

Eine Dekade später, 2013, zog sich die Türkei vom Wettbewerb zurück. Als Grund wurde das Abstimmungsverfahren bemängelt sowie die Tatsache, dass die fünf zahlstärksten Nationen auch ohne Halbfinale in der grossen Samstagabendshow teilnehmen dürfen.

Dass die Türkei nach dieser Kritik nicht mehr zum ESC zurückkehrte, hat dann aber nicht mit Geld, sondern mit den «trojanischen Pferden der sozialen Korruption» zu tun, wie es Erdogan am Montagabend ausdrückte. Denn 2013 war auch das Jahr, als die finnische Sängerin Krista Siegfrids auf der Bühne ihre Backgroundsängerin küsste.

Sängerin Krista Siegfrids präsentiert den Song «Marry Me» für Finnland beim Grand Final des Eurovision Song Contest 2013.
Bild: www.imago-images.de

Und dann ist da noch die Sache mit Conchita Wurst, die 2014 den ESC gewann. Diese ist dem Präsidenten und seinen Anhängern ein Dorn im Auge. Ibrahim Eren, der General Manager des türkischen Staatsfernsehens TRT, sagte 2018: «Als öffentlich-rechtlicher Sender können wir nicht um 21 Uhr – wenn die Kinder noch wach sind – jemanden wie den bärtigen Österreicher übertragen, der einen Rock trägt, nicht an Geschlechter glaubt und sagt, dass er sowohl ein Mann als auch eine Frau ist.»

Conchita Wurst trägt Bart und Kleid.
Bild: epa/scanpix denmark

Und jetzt also Nemo. Das Bieler Musiktalent fördert die «Geschlechtszentralisierung», wie Erdogan überzeugt ist. So sagte er am Montagabend in seiner Kabinettsrede: «Es bestätigt sich je länger, je mehr, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben, indem wir die Türkei in den vergangenen zwölf Jahren aus diesem schändlichen Wettbewerb herausgehalten haben.»

Das Wegbleiben der Türkei ist vorwiegend für Aserbaidschan schade, das regelmässig 12 Punkte vom türkischen Nachbarn einheimste.

LGBTI* in der Türkei

Erdogans Aussagen zum ESC stehen sinnbildlich dafür, wie mit der LGBTI*-Community in der Türkei umgegangen wird. Dabei sang Sertab Erener vor über 20 Jahren in ihrem Siegersong noch: «Du gibst mir das Gefühl, genau so zu sein, wie ich es sollte (…). Jetzt wird der Rest der Welt überstimmt.»

So zu fühlen, dass es sich gut anfühlt, gilt in der Türkei allerdings nur für die heterosexuelle Liebe. Denn Erdogans rechtspopulistische «Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung», mit ihren islamischen Werten, hat in den vergangenen Jahren immer weniger Toleranz gegenüber LGBTI*-Rechten gezeigt.

Rechtlich gesehen ist Homosexualität zwar seit 1852 kein Strafbestand mehr, trotzdem werden homosexuelle Menschen gesellschaftlich geschnitten. Seit 2015 werden Pride-Veranstaltungen – und mögen sie noch so klein sein – in der Türkei systematisch verboten. Immer wieder werden LGBTI*-Personen an Veranstaltungen festgenommen. Im Juni 2023 gingen Bilder um die Welt, die zeigten, wie die Polizei an der Trans Pride in Istanbul zehn Personen festnahm und dabei exzessive Gewalt anwandte.

Festnahmen während der Trans Pride in Istanbul am 18. Juni 2023.
Bild: Keystone

Für einen regelrechten Eklat sorgte der türkische Innenminister Süleyman Soylu im Jahr 2021, als er vier Studierende auf Twitter als «LGBT-Perverse» bezeichnete. Der Post ist zwar noch online, hat aber den Vermerk, dass er gegen die X-Regeln verstosse. Die Studierenden waren zuvor festgenommen worden, weil sie in einer Kunstausstellung auf dem Campus ein Werk zeigten, auf dem das zentrale Heiligtum des Islam, die Kaaba in Mekka, mit einem Symbol der LGBTI*-Gemeinschaft abgebildet war.

2022 unterstützte die türkische Rundfunkaufsichtsbehörde RTÜK einen Werbespot, in dem LGBTI* als «Virus» bezeichnet und für die «Zerrüttung von Familien» verantwortlich gemacht wird.

Dies sind nur einige Beispiele, die verdeutlichen, wie die LGBTI*-Community in der Türkei in Gefahr ist.Im Juni 2023 schrieb Amnesty International dazu:«Durch die Verschärfung der Anti-LGBTI*-Rhetorik hat die türkische Regierung dazu beigetragen, Vorurteile zu schüren und Anti-LGBTI*-Gruppen zu ermutigen; einige unter ihnen haben gar zu Gewalt gegen LGBTI*-Communitys aufgerufen.»

Erdogans Statement gegen Nemo und den ESC passt in diese Entwicklung.