Kein bisschen Frieden: Um den ESC-Beitrag von Israel tobt ein wüster Streit
«United by Music» ist das Motto des diesjährigen Eurovision Song Contest. Es ist eine jener inhaltsleeren Worthülsen, die Veranstalter von Grossanlässen gerne zum Slogan küren. Es heisst alles und nichts. «United» in einer Welt, die grad reichlich «divided» ist, klingt doch nice.
Doch: So «united by Music» ist selbst der ESC nicht mehr. Es tobt gerade ein recht merkwürdiger Stellvertreterkrieg. Es geht, Sie ahnen es sicherlich schon, um Israel. Das Land schickt Eden Golan mit dem Titel «October Rain» in das Rennen. Den gibt es zwar noch nicht zu hören, aber der Text wurde bereits geleakt.
Dieser besteht aus – ganz ESC-Motto-like – vielen Worthülsen. Da wird im «Rain» gedanct und «Take me home and leave the world behind» geht auch immer. Kann alles und nix heissen. Und dann gibt es noch ein paar Stellen, die zumindest viel heissen könnten, wenn man es dann so hören will.
«Those that write history/Stand with me», zum Beispiel. Oder: «Someone stole the moon tonight/ Took my light/ Everything is black and white». Natürlich geht es in «October Rain» nicht um Regen im Oktober, sondern um den grausamen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Er beschreibt die Befindlichkeit des Landes, er ist aber frei von klaren, expliziten politischen Botschaften. Maximal ist er kämpferisch-trotzig: «Wir lassen uns nicht unterkriegen.»
Die Ukraine gewann wegen der Politik
Anscheinend ist das too much für die Europäische Rundfunkunion (EBU), die den Eurovision Song Contest veranstaltet. Sie prüft derzeit, ob sie den Song zulassen will. «Zu politisch» so der Verdacht der Prüfenden. «Der ESC ist eine unpolitische Veranstaltung. Alle teilnehmenden Rundfunkanstalten haben dafür Sorge zu tragen, dass alle erforderlichen Schritte unternommen werden, um sicherzustellen, dass der ESC in keinem Fall politisiert und/oder instrumentalisiert wird», steht da im Reglement.
Streng genommen kann man den israelischen Beitrag wohl schon disqualifizieren. Natürlich ist der Song politisch. Nun folgen aber gleich zwei «Abers». Wäre es richtig, den israelischen Song auszuschliessen? Sicher nicht. Den ESC als «unpolitische Veranstaltung» zu bezeichnen, ist längst absurd. So gewann 2022 das Kalush Orchestra für die Ukraine, vor allem durch eine grosse Solidaritätswelle für das kriegsgeplagte Land.
Im Stück ging es zwar nicht um den Krieg, aber gesiegt haben die Ukrainer wegen der Politik. Zahlreich wurden während der Sendung ukrainische Flaggen geschwenkt. Es war ein – durchaus politisches – Zeichen: Europa steht hinter der Ukraine. Auch in vielen Songs blitzt die Politik durch. Remo Forrer sang im vergangenen Jahr ein Anti-Kriegslied und Nicole gewann 1982 mit «Ein bisschen Frieden» den ESC.
Frieden ist offenbar nicht immer politisch
Anders als Eden Golan vermieden es Forrer (den russischen Angriffskrieg) und Nicole (den Falklandkrieg), die eigentlichen Hintergründe ihrer Songs auszuweisen. «Peace» ist im Pop neben der «Love» einer der Evergreens. Politisch wird der Frieden scheinbar erst, wenn man sagt, wo genau Frieden herrschen soll. Sei’s drum. Auch sonst wimmelt es am ESC von Beiträgen, die zumindest politisch gelesen werden können. Mal ging es um Rechte für Homosexuelle, mal um Frieden, mal ums Klima. Immer so nichtexplizit, dass den Prüfern gar nichts anderes übrig blieb, als den Song durchzuwinken.
Nun zum zweiten «Aber»: Es sei zumindest die Frage erlaubt, ob es geschickt ist, dass Israel einen solchen Song zum ESC schickt. Die Debatte um den Gaza-Krieg ist schon so hoch eskaliert, dass es beinahe unmöglich ist, all die Zundhölzer auszulöschen, die den nächsten Flächenbrand entfachen könnten. Die nun zigtausendfach über Social-Media geteilten Boykott-Aufrufe gegen den Eurovision Song Contest sind ein weiteres Zeichen, dass selbst Musik nicht mehr alle vereinen kann.
United ist anders
Mit «October Rain» wird die Polarisierung in der Gesellschaft auch in den Wettbewerb getragen. Es ist das gute Recht von Israel, eine selbstbewusste Message an diesen Wettbewerb zu tragen. Es ist vielleicht auch ein trotzig-kämpferisches «Wir lassen uns nicht unterkriegen» nachdem bereits vor der Songwahl erste Länder wegen des Krieges (vergeblich) den Ausschluss von Israel forderten.
Dem ESC droht vielleicht gar eine komplette Polarisierung. Am Samstag entscheiden die Isländer, wen sie nach Malmö schicken. Dabei ist der Palästinenser Bashar Murad einer der Favoriten. Der ist bereits 2019 in Tel Aviv am ESC für Island angetreten (damals im Trio) und hielt dabei eine Palästina-Flagge in die Kamera. «United by Music» wäre irgendwie anders.