Widmer-Schlumpfs Sieg über Blocher kommt auf die Bühne – so tickt der Regisseur, der dahinter steckt
E-Scooter sollen den Homo sapiens bei seiner natürlichsten Fortbewegungsart entlasten: dem aufrechten Gang. Unsere Zivilisation ist durch dieses Gerät zwar keinen Schritt weiter gekommen. Trotzdem fluten global tätige Unternehmen weltweit Städte mit diesem Fortbewegungsmittel, das bevorzugt von Touristen und Anzugträgern genutzt wird.
Der Berner Künstler Piet Baumgartner (37) nahm dies im letzten Jahr zum Anlass, um über die Auswüchse des Neoliberalismus nachzudenken. In dem am Zürcher Neumarkt-Theater gerade wieder gespielten Stück «Trottinett-Ballett» werfen sich die Schauspielenden auf E-Scootern für die Corporate Identity eines fiktiven Unternehmens in grazile Posen.
Bei der Premiere im vergangenen Jahr, so erzählt der Theater- und Filmemacher, habe sich sein Eindruck von diesem Geschäft in einem dramatischen Ereignis abseits der Bühne bestätigt: Drei Stunden vor der Premiere standen die E-Scooter auf der Bühne plötzlich still. Das international tätige Unternehmen hatte in Pakistan ein Software-Update vorgenommen und erlebte den ersten Shutdown seiner Geschichte. Fast hätte es die Premiere in Zürich vereitelt.
Vom Konstrukteur zum Künstler
Dass Piet Baumgartner Fragen nach gesellschaftlicher Verantwortung und Nachhaltigkeit umtreiben, hat viel damit zu tun, wie er aufgewachsen ist. Baumgartner kommt aus einer Familie, in der Handwerk noch etwas zählt und Verantwortung eine Verpflichtung auf Lebenszeit bedeutet. Der gelernte Konstrukteur hätte eigentlich den Maschinenteile produzierenden Handwerksbetrieb seines Vaters übernehmen sollen. Stattdessen verliess er das 150-Seelendorf im Berner Seeland frühzeitig, wurde Journalist.
«Auf meinen Reportagen vom WEF in Davos habe ich über die absurdesten Sachen berichtet. Bill Gates steht vor dir am Selbstbedienungsbuffet. Ganze Orchester werden für 15-minütige Apéro-Begleitung eingeflogen», erinnert er sich. Weil ihm der Journalismus irgendwann zu wenig Raum gab, um Geschichten auszuerzählen, studierte er Film und erlernte bald das weniger zeit- und kostenintensive Theaterhandwerk bei Frank Castorf und René Pollesch.
Die Faszination für die Absurditäten im Kapitalismus hat ihn aber nie losgelassen. 2017 filmte er für die Zürcher Photobastei mit seinem langjährigen Kreativpartner, dem Zürcher Sänger Rio Wolta, am Autosalon in Genf die Gesichter gelangweilter Hostessen. Das Lächeln der Damen verrutscht, die Haare werden reflexartig nach hinten geworfen. Performt wird eine freundliche Zugewandtheit ohne Gegenüber. «Ich könnte stundenlang zuschauen», sagt Baumgartner. «Es erzählt so viel über unsere Welt.»
Eine Welt, in der Identifikation mit dem Produkt oft nur noch performt wird, wo Verantwortung ein schwer fassbares Konstrukt ist. Im Herbst soll Baumgartners Dokfilm über die St.Galler Kaderschmiede HSG in die Kinos kommen. Der Künstler begleitete dafür jahrelang Absolventen eines Elitestudiengangs ins Berufsleben,jettete mit ihnen um die Welt. Sein Ziel: Verstehen, wie diese Elite mit ihrer Verantwortung umgeht.
Blochers Abwahl erlebte er live
Im Herbst plant er in Zusammenarbeit mit dem Theater Neumarkt ein Stück über Eveline Widmer-Schlumpf. Baumgartner dazu: «Ihre Wahl in den Bundesrat war der grösste Thriller der Schweizer Politik.»
Vor 15 Jahren erlebte er als Bundeshausredaktor die Abwahl von alt Bundesrat Christoph Blocher live mit. Jetzt will er die Geschichte unter dem Stichwort #MeToo neu aufrollen.
Diese politischen Botschaften täuschen darüber hinweg, dass Baumgartners Zugang eigentlich ein sinnlich-poetischer ist. Sich in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht hat er 2015 mit einem Musikvideo für den Song «Through My Street» von Rio Wolta. Die zwei sich zärtlich umtanzenden Bagger fanden international Beachtung.
Für den Baustellendreh hatte sich Baumgartner zwei Spielzeugbagger gekauft, mit deren Hilfe er den Tanz mit den italienisch sprechenden Baggerführern einstudierte. «Ich hatte früh diese Faszination für Maschinen. Wenn man sie aus ihrem Kontext herauslöst, sie mit Musik und Beleuchtung in einem neuen Zusammenhang setzt, werden sie fast menschlich», so der Künstler.
Ein Schuss Dada hat alles. Etwa, wenn er Ballwurfmaschinen aus dem Tennis auf der Bühne zu Akteuren macht oder Chinesen in Peking darum bittet, Franz Hohlers «Totemügerli» nachzusprechen. Die Schnapsideen der entfesselten Wirtschaft sind Baumgartners kreative Kapitalanlage.
Letztes Jahr versammelte er mit Rio Wolta in der Zürcher Wasserkirche 200 Wasserkocher zu einem Konzert, dessen Siedepunkt bald erreicht war. Pipilotti Rists berühmter Performance «Ever is over all», in der die Künstlerin in Zürich fröhlich Autos zertrümmert, hat er ein Update verpasst. Bei ihm zertrümmert eine Schauspielerin surrende Drohnen. Was sonst noch auf seiner Liste steht? Nur so viel sei verraten: Als Nächstes hat es der Künstler auf die fetten SUV abgesehen. Die werden bald auf einem Dönerstab gegrillt.