«Reales Risiko einer Mangellage»: Was geschieht, wenn uns der Strom ausgeht? Die Antworten der Experten
Das Aufgebot war gross: Nicht weniger als neun Experten aus dem Bereich Energie standen am Mittwochmorgen im grossen Konferenzsaal des Bundesmedienzentrums Rede und Antwort. Das Thema dominiert seit Wochen die internationalen Schlagzeilen: Wie sieht die Versorgungssicherheit Europas diesen Winter aus? Das Datum ist speziell gewählt. Derzeit richten sich alle Augen auf morgen Donnerstag. Um 6.00 mitteleuropäischer Zeit soll wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 von Russland nach Europa fliessen. Doch derzeit weiss niemand, ob Wladimir Putin den Gashebel als Kriegsinstrument gegen den Westen nutzt.
Die zentrale Botschaft war denn auch: Die Lage ist ernst. Neu hingegen waren zaghaft gedeutete Zeichen, dass die schlimmsten Szenarien vielleicht nicht eintreten werden.
«Die Verantwortlichen arbeiten intensiv an einer Lösung», sagte Benoît Revaz. Der Direktor des Bundesamts für Energie ergriff als erster das Wort. «Die Unsicherheit ist noch nie so gross gewesen wie heute. Wir erleben zur Zeit die erste weltweite Energiekrise, mit Europa im Epizentrum.» Revaz gab einen Überblick über die – bereits bekannten – ergriffenen Massnahmen: ein Rettungsschirm für Stromkonzerne, Gas- und Wasserreserven, eine Sensibilisierungskampagne, Bemühungen um Solidaritätsabkommen mit Nachbarschaftsländern.
Es sind Massnahmen, welche die Versorgungssicherheit im Herbst und Winter gewährleisten sollen. «Es besteht ein reales Risiko, dass es eine Mangellage geben wird», sagte Bastian Schwark, Fachbereichsleiter Energie im Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL). Zuletzt habe es aber Signale für einen «verhaltenen Optimismus» gegeben, dass die Gaslieferungen aus Russland wieder ein Niveau von 40 Prozent erreichen könne. Dies zeige der Markt.
Gasspeicher weiter gefüllt – auch ohne Russland
Urs Meister, Geschäftsführer der unabhängigen Eidgenössischen Elektrizitätskommission ging ebenfalls auf diese Märkte ein. Er lieferte ein eindrückliches Bild von den massiven Preisschwankungen im Energiebereich. «Die Unsicherheiten sind gross. Wenn Nord Stream 1 wieder aufgeht, dürften die Preise sinken, wenn nicht, dürften sie nochmals steigen.» Für etwas Zuversicht sorge unter anderem, dass Europa die Gasspeicher in den vergangenen Wochen weiter befüllen konnte – obwohl Nord Stream 1 wegen Wartungsarbeiten stillgelegt war. «Die Füllungsgrade der Gasspeicher betragen derzeit 59 Prozent im Unterschied zu 56 Prozent Anfang Juli», sagte Meister. «Sollte weiterhin russisches Gas fliessen, ist die Gefahr für eine Mangellage gering.»
Michael Frank, Direktor des Verbands Schweizerischer Energieunternehmen, appellierte dennoch an die Bevölkerung: «Wir alle müssen schon heute einen Beitrag leisten, in dem wir schon heute weniger Strom und Warmwasser verbrauchen. Jede Kilowattstunde zählt.» Frank zeigte aber auch auf, was der Schweiz bei einer ernsthaften Mangellage droht.
Es ist die bereits bekannte Kaskade: Zuerst kommt es zu Sparappellen. Dann sollen jene Betriebe, die über eine sogenannte Zweistoffanlage verfügen, von Gas auf Heizöl umsteigen. In einer dritten Stufe könnte der Bundesrat Einschränkungen für gewisse Anwendungen beschliessen, etwa die Heiztemperatur in öffentlichen Gebäuden. Ultima ratio wäre schliesslich eine Kontingentierung von nicht geschützten Verbrauchern. Nicht betroffen wären davon die Privathaushalte.
Noch befände sich die Schweiz im Normalzustand, betonten verschiedene Experten. «Es wäre falsch, in Alarmismus zu verfallen», sagte Frank. Falsch wäre es aber auch, den Ernstfall jetzt nicht vorzubereiten. «Im besten Fall haben wir unsere Krisenresistenz gestärkt.»
Auf eine Prognose, wie der kommende Winter tatsächlich aussieht, wollte sich niemand einlassen. Zu viele Faktoren beeinflussen derzeit die komplexe Energieversorgung der Schweiz. Neben Putin wird nicht zuletzt das Wetter eine entscheidende Rolle spielen, beispielsweise beim Befüllen der Speicherseen und dem Kühlen von Atomkraftwerken.
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