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«Das Familienrecht ist zu stark auf die Ehe ausgerichtet»: Was sich laut einem Experten ändern müsste

Patchworkfamilien, eine Zunahme an nicht ehelichen Geburten und eine hohe Scheidungsquote: Diesen gesellschaftlichen Entwicklungen hinkt das Familienrecht hinterher. Jonas Schweighauser, Professor für Familienrecht, sagt, warum besonders unverheiratete Frauen mit Kindern benachteiligt werden.

Wer nicht heiraten will, kann künftig womöglich einen sogenannten PACS abschliessen, eine Art «Ehe light». Das Parlament hat dafür kürzlich grundsätzlich grünes Licht gegeben. Jonas Schweighauser, Professor für Familienrecht und Anwalt, sagt im Interview, warum das eine Verbesserung wäre – und wer unter dem heutigen Recht leidet.

Wie zeitgemäss ist das Schweizer Familienrecht noch?

Jonas Schweighauser, Professor für Familienrecht
zvg

Jonas Schweighauser: Wenn man die familiären Konstellationen anschaut, die es heute gibt, muss man sagen: Unser Familienrecht ist nicht mehr zeitgemäss. Denn es ist stark auf die Ehe ausgerichtet. Wir haben heute aber eine Zunahme nicht ehelicher Lebensgemeinschaften, Patchworkfamilien, eine hohe Scheidungsquote und komplexe Betreuungssituationen. Es gibt nicht mehr nur ein Familienmodell, sondern viele verschiedene.

Welchen Schwierigkeiten begegnen Sie als Anwalt häufig, weil das Familienrecht nicht mehr zeitgemäss ist?

Schwierigkeiten gibt es vor allem bei unverheirateten Paaren, die Kinder haben und bei denen ein Partner vom anderen wirtschaftlich abhängig ist. Unter anderem fehlt die Möglichkeit, sich sozialversicherungsrechtlich abzusichern – für den Fall einer Trennung, aber auch beim Todesfall eines Partners.

Wie wirkt sich das konkret aus? Geht das zulasten der Frauen, die ihr Arbeitspensum reduziert haben? Oder der Väter, die ihre Kinder nicht betreuen dürfen?

Bezüglich Betreuung gibt es klare gesetzliche Vorgaben. Es gibt allerdings Väter, die finden, diese würden nicht richtig umgesetzt und sie würden dadurch benachteiligt. Es ist für mich unklar, wie viele Väter tatsächlich betroffen sind, ob es nur eine kleine Gruppe ist, die aber gut auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen kann, oder ob die Anzahl der Betroffenen grösser ist. Nun will man ja noch einen Schritt weiter gehen, weg von der gemeinsamen elterlichen Sorge zur alternierenden Obhut als Regelfall.

Das hat das Bundesgericht ja 2020 so entschieden …

Nein, das ist nicht korrekt. Das Bundesgericht hat nie die alternierende Obhut zum Regelfall erklärt. Entscheidend ist auch für das höchste Gericht allein das Kindeswohl, und das scheint mir auch richtig. Ich sehe hier keinen Handlungsbedarf. Das grosse Problem ist, dass bei Unverheirateten der wirtschaftlich schwächere Partner benachteiligt wird. Das sind heute in der Mehrheit Frauen, weil sie sich mehr um die Kinder kümmern. Ohne Heirat haben sie keine sozialversicherungsrechtliche Absicherung und keine Möglichkeit, Unterhaltszahlungen zu erhalten. Wenn kein Konkubinatsvertrag vorliegt, haben sie nach einer Trennung auch noch Schwierigkeiten, in der Wohnung zu bleiben. Verheiratete sind deutlich besser geschützt, auch mit der restriktiveren Bundesgerichtspraxis.

Man könnte sagen: selber schuld. Sie hätten schliesslich heiraten oder einen Konkubinatsvertrag abschliessen können. Warum muss sich das Recht ändern?

Wenn sich ein Paar – und zwar beide Personen – bewusst so entscheidet, ist es selbst schuld, gewiss. Aber bei vielen ist es kein bewusster Entscheid. Manche sind völlig überrascht, wenn sie zu mir in die Anwaltskanzlei kommen und erfahren, welche Folgen es hat, dass sie nicht verheiratet sind. Ein Problem ist, dass viele sich während einer funktionierenden Beziehung nicht mit einer allfälligen Trennung befassen wollen. Das empfinden viele Paare als unangenehm. Daher gibt es auch nur wenige Paare, die Konkubinatsverträge abschliessen.

Ist das Familienrecht zu stark auf die Ehe ausgerichtet?

Ja, wie gesagt: Wenn man das Recht der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen will, müsste man das ändern. Heute zwingt man auch Leute in die Ehe, die das eigentlich nicht wollen, weil sie sich sonst nicht absichern können.

Die Rechtskommission des Nationalrats gab kürzlich grundsätzlich grünes Licht für die Einführung eines «Pacte civil de solidarité» (PACS), einer Art Ehe light. Ist das der richtige Weg?

Es wäre eine Verbesserung gegenüber der aktuellen Situation. Die Hoffnung wäre, dass Paare dadurch beispielsweise eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung hätten. Zahlen aus Frankreich deuten darauf hin, dass es eine grössere Anzahl von Paaren gibt, die nicht heiraten wollen, aber einen PACS abschliessen. Eigentlich ist es aus meiner Sicht aber nicht der richtige Weg.

Was wäre der richtige Weg?

Sinnvoll wäre, dass man nur die faktische Lebenssituation anschaut und daran Rechtsfolgen knüpft. Wenn ein Paar zusammenlebt und zusammen Kinder hat, ist das ein Faktum, das man berücksichtigen sollte. Warum sollen sie rechtlich anders behandelt werden als ein verheiratetes Paar mit Kindern? Das Gleiche gilt für ein Paar, das über Jahre oder gar Jahrzehnte zusammenlebt. Wenn man die faktische Lebenssituation anschaut, könnte man alle erfassen – auch jene, die sich nicht um einen Konkubinatsvertrag oder PACS kümmern. Aber das Parlament hat nun die Weichen Richtung PACS gestellt.

Paaren soll in der Schweiz neben der Ehe und dem Konkubinat künftig eine dritte Option offenstehen: der PACS. Die Rechtskommission des Nationalrats stimmte kürzlich einer parlamentarischen Initiative von FDP-Ständerat Andrea Caroni zu. Wie der PACS ausgestaltet werden soll, ist noch offen. Als Nächstes wird ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet, über den anschliessend das Parlament beraten wird.

Auch in einem anderen Punkt soll das Recht modernisiert werden: Die Rechtskommission entschied, dass das Abstammungsrecht angepasst werden soll. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wer die Vaterschaft anfechten kann.

Noch offen ist, welche Rechte und Pflichten der PACS beinhalten soll. Was wäre aus Ihrer Sicht wichtig?

Es sollte möglichst wenig Unterschiede geben zwischen dem PACS und der Ehe. Es gibt keinen Grund für unterschiedliche Rechtsfolgen.

Wird die Ehe dadurch nicht infrage gestellt und geschwächt?

Das sagen jene, die sich gegen den PACS wehren. Ich würde das bestreiten. Ich bin überhaupt nicht dafür, dass man die Ehe abschafft. Wenn ein Paar heiraten will, soll es das tun! Aber man sollte jenen, die das nicht wollen, auch eine Möglichkeit bieten, sich rechtlich abzusichern. Gleichzeitig sollte man sich überlegen, ob sich auch bei der Ehe Änderungen aufdrängen.

Woran denken Sie?

Beim Verfahrens- und Scheidungsrecht könnte man Änderungen prüfen. Beim Unterhaltsrecht haben wir zudem die Situation, dass vermehrt Gerichte die Funktion übernehmen, welche der Gesetzgeber eigentlich innehat. Das ist unschön.

Inwiefern?

Beim Kinderunterhaltsrecht hat das Parlament sehr offen legiferiert und vieles einfach der Praxis überlassen. Hinzu kommt, dass das Bundesgericht seine Praxis vermehrt anpasst, ohne dass der Gesetzgeber aktiv geworden ist oder es sogar abgelehnt hat, aktiv zu werden. Dies ist meines Erachtens unbefriedigend. Wenn am Schluss die zweite zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts – fünf Männer zwischen 50 und 67 – die Richtung vorgeben, kann man sich schon fragen, ob das unter unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung richtig ist.

Wenn Sie sagen, das Familienrecht sei nicht mehr zeitgemäss: Wie wirkt sich das auf die Kinder auf?

Unter anderem wirkt es sich beim Abstammungsrecht auf die Kinder aus. Der Grundsatz «Mater semper certa est» – dass also die Frau, die das Kind geboren hat, immer die Mutter ist – stimmt wegen der Reproduktionsmedizin nicht mehr in jedem Fall. Bei den Vätern haben wir heute die Situation, dass der Ehemann immer als Vater gilt. Weder das Kind noch der genetische Vater können das anfechten.

Haben Sie als Anwalt schon Fälle betreut, in denen Sie einem Mann, der glaubt der Vater zu sein, sagen müssen: Rechtlich lässt sich nichts machen?

Oft weiss der Mann sogar, dass er der genetische Vater ist. Aber er kann die genetische Vaterschaft nicht in eine juristische umwandeln. Diese rechtlichen Bestimmungen stammen aus dem Jahr 1907, als man die Vaterschaft noch nicht nachweisen konnte. Heute stehen wir medizinisch an einem anderen Punkt.

Wer leidet eigentlich darunter, dass das Familienrecht nicht zeitgemäss ist?

In erster Linie leiden die wirtschaftlich Schwächeren, die nicht verheiratet sind. Zweitens die Kinder: Wenn es Konflikte gibt, leiden sie besonders. Aus meiner Sicht müsste man deshalb das nicht juristische Beratungsangebot ausbauen, damit mehr einvernehmliche Lösungen gefunden werden können. Der Gerichtspräsident ist nicht immer der richtige, um in einem schwerwiegenden Betreuungsstreit zu vermitteln. Basel-Stadt ist hier schon gut unterwegs, aber in anderen Kantonen fehlt es noch an Angeboten.

Eine letzte Frage: Empfehlen Sie Bekannten eigentlich zu heiraten, wenn sie Kinder haben?

Ich sage meinen Studierenden immer: Wenn bei einem Paar beide wirtschaftlich unabhängig bleiben und sie sich die Kinderbetreuung egalitär aufteilen, müssen sie nicht heiraten. Aber ich frage die Studierenden auch immer, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Viele wollen Kinder. Die Frauen wollen weiterarbeiten, viele mit ungefähr einem 60-Prozent-Pensum. Die Männer hingegen wollen kein Arbeitspensum unter 80 Prozent. Hier fängt das Gefälle an. Und sobald es ein Ungleichgewicht gibt, sind sie als Verheiratete besser abgesichert.