Showdown im Nationalrat: So steht es um die Solidarität mit den Ukrainerinnen
Als der Ständerat im vergangenen Juni über eine Motion von Esther Friedli aus St. Gallen diskutierte, war er sich wohl kaum deren Brisanz bewusst. Nur drei Wortmeldungen verzeichnet das Protokoll: die Motionärin selbst, SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard und der zuständige Bundesrat, Beat Jans. Ein halbes Jahr später ist die Ausgangslage anders: Gegner der Motion befürchten, die Schweiz könne mit Norwegen das erste Land Europas werden, das die Ukraine rechtlich in zwei unterschiedliche Gebiete teilt. Die Skandinavier planen eine Einteilung der Ukraine in Zonen, in die Flüchtlinge zurückgeschafft werden können. Sicher ist: Die Solidarität der Schweiz mit dem kriegsgebeutelten Land steht auf dem Prüfstand.
Konkret geht es um den Schutzstatus S, von dem in der Schweiz seit Kriegsausbruch 67’000 Ukrainerinnen profitieren. Dieser erlaubt es Geflüchteten, ins Ausland zu reisen oder auch in der Schweiz zu arbeiten. In ihrem Vorstoss verlangt Friedli, diesen Schutzstatus nur jenen Personen zu gewähren, die in von Russland besetzten Gebieten wohnen oder die gerade umkämpft sind. «Es gibt immer mehr Fälle von Flüchtenden, die den Schutzstatus S beantragen, aber gar nicht an Leib und Leben bedroht sind», begründet Friedli ihr Vorgehen. Gleichzeitig kämen in der Schweiz Gemeinden und Schulen an den Anschlag.
Dagegen wehrt sich der Bundesrat, nicht zuletzt aus aussenpolitischen Überlegungen. Eine solche Teilung stünde nicht im Einklang mit den geltenden Regeln der anderen europäischen Länder, heisst es in einer Antwort auf den Vorstoss. «Die Verminderung von Sekundärmigration und Vermeidung von zusätzlichen Belastungen der Aufnahmesysteme sind gemeinsame Ziele der Schweiz und der EU. Ein Alleingang der Schweiz würde diesem vom Bundesrat wiederholt erklärten Ziel zuwiderlaufen.»
Wie sicher ist der Westen der Ukraine?
Im Justizdepartement ist man zudem der Auffassung, es gebe keine Sicherheit in der Ukraine. Spätestens seit Russland auch Mittelstreckenraketen einsetzt, könnten praktisch sämtliche Ortschaften des Landes zu einem potenziellen Ziel Putins werden, ist aus dem Inneren des EJPD zu hören.
Beat Jans scheint in dieser Frage auch auf bürgerliche Unterstützung im Bundesrat zählen zu können. Verwaltungsinterne Dokumente, die dem «Blick» am Freitag zugespielt wurden, zeigen, dass sowohl das Aussendepartement von Ignazio Cassis wie auch das Wirtschaftsdepartement von Guy Parmelin wenig glücklich sind über die Motion. Der Formulierung, dass diese Forderung von der EU als unsolidarisch aufgefasst würde und diese im «Widerspruch zum Engagement der Schweiz für Frieden in der Ukraine» stünde, stimmten sie gemäss «Blick» in der Vernehmlassung zu.
Im Departement Jans sind die Bedenken dennoch gross, dass auch der Nationalrat Ja sagt zu Friedlis Motion. Traktandiert ist das emotionale Geschäft für den ersten Tag der Session. In der vorberatenden Kommission waren die Mehrheitsverhältnisse äusserst knapp: Nur mit Stichentscheid beantragt sie die Ablehnung der Motion.
Am Montag dürften sich die Augen auf Mitte-Präsident Gerhard Pfister legen. Er hat sich in der Vergangenheit stets klar positioniert. Gegenüber «Nau» sagte Pfister einst: «Wenn man verlangt, dass nur noch Ukrainerinnen und Ukrainer aus besetzten Gebieten sich in der Schweiz aufhalten dürfen, unterstützen wir ein mögliches Kriegsziel Russlands.» Allerdings stimmten bereits im Ständerat verschiedene Mitte-Vertreter mit der SVP und auch im Nationalrat dürfte es Abweichler von Pfisters Linie geben.