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In Lenzburg sind die Bilder los: Fotografie erobert die Stadt, den Wald – und sogar das Schloss  

Das 5. Fotofestival Lenzburg ist ein starkes und vielgesichtiges Ereignis. Fotografie in der ganzen Breite des Ausdrucks findet eine Stimme, und diese ist in diesem Jahr ganz besonders nachdenklich. 

Die Falle schnappt zu, wir sind gefangen, wir stehen im Bann der Bilder: Das Fotofestival ist in der Stadt, mit einer Doppelausgabe dieses Mal, und die ist bemerkenswert. Sie hat internationales Niveau, ist hochprofessionell kuratiert, zeigt das gesamte Spektrum des Mediums – und bezieht die Bevölkerung mit ein. Manches Fotoevent mit üppigerem Budget könnte sich von diesem Team-Spirit eine fette Scheibe abschneiden.

Der Star, klar, ist der italienische Fotograf Davide Monteleone, er bespielt das Stapferhaus (Besprechung folg). Doch was sich im Übrigen in den kleineren, intimen Räumen des Müllerhauses oder auf dem Schloss Lenzburg abspielt, im Wald am Gofiweg, am Kronenplatz und am Seetalplatz, ist auf seine Art mindestens so bemerkenswert. «re:sources 2.0» ist der Leitgedanke der 5. Ausgabe, kritisch befragen die Leiterin Margherita Guerra und der gesamtverantwortliche Kurator Daniel Blochwitz die Fotografie auf ihre Auseinandersetzung mit unseren natürlichen Ressourcen. Und wo anders glückt das besser als in der Natur selbst, im Wald?

Henri Blommer: Im Entwicklerbad schwammen lokale Waldbeeren

Hinter dem Schloss hat der niederländische Künstler und erste Residence-Gast Henri Blommers die Open-Air- Ausstellung «Nature under Threat» realisiert; die Schau ist die Folge einer intensiven Zusammenarbeit von Leitungsteam und Kunstschaffendem von der ersten Idee, der konzeptionellen Schärfung bis zur Realisierung. Blommers interessierte sich für bedrohte Pflanzenarten der Region, und eine einmonatige Recherche bei regionalen Naturschutzorganisationen und Bauern führte ihn schliesslich zum Ziel. Auf 21 Bildern, die entlang des Gofiweg installiert sind, legen Baum-Protagonisten und Pflanzen-Darsteller Zeugnis ab von ihrem fragilen Zustand. Blommers fotografierte sie analog und reicherte das Entwicklerbad an mit lokalen Ingredienzen (Quellwasser, Beeren zum Beispiel). Der visuelle Verfremdungseffekt ist frappant.

Fragilität, Zerbrechlichkeit, Bedrohung. Davon erzählen auch die Bilder des Schweizers Fridolin Walcher, die unter freiem Himmel auf dem Seetalplatz installiert sind. Walcher ist einer der kenntnisreichen Gletscher-Fotografen und Beobachter ihres Rückzugs, sei es in Grönland oder in der Schweiz. In Lenzburg auf zarte Textilien gedruckt, von jedem Windhauch bewegt, vermitteln die eisigen Riesen den Eindruck eines lebendigen Wesens, das um seine Existenz kämpft: Das Umfeld ist ihm feindlich gesinnt, es besteht aus nicht viel mehr als nacktem städtischen Beton.

Auf Schloss Lenzburg, zum ersten Mal hat das Festival hier Gastrecht, zieht sich die thematische Linie einer zerbrechlichen Welt mit zwei starken Positionen weiter. Die Westschweizerin Catherine Leutenegger widmet sich der Frage nach neuen Ästhetiken als Folge neuer Technologien. Mit einem 3D-Drucker etwa lassen sich sowohl komplexe Körperorgane als auch ganze Häuser drucken; Leuteneggers Visualisierung dieser und anderer High-End-Experimente ist visuell unverschämt attraktiv. – Doch wer sich die Zeit nimmt, sich auf die Hintergründe und Forschungsanlagen einzulassen, verlässt die Ausstellung verstört.

Ingar Krauss: Der alte, weisse Mann auf dem toten Gleis

Verstörung in höchster Eindringlichkeit und in technischer Vollendung leistet auch der zweite Beitrag in den Schlossmauern. Der Ostberliner Künstler Ingar Krauss porträtiert in seinem Zyklus «Solitaries», (Einzelgänger, Solitäre), Menschen, die man im Zuge der Genderdebatte als System-Profiteure und «alten weissen Mann» bezeichnet. Sie gibt es auch im Oderbruch, wo Krauss lebt, eine dünn besiedelte Region östlich von Berlin nahe der polnischen Grenze. Die Männer hier sind allerdings das Gegenteil des eilfertigen Klischees. Sie sind die System-Verlierer.

Innerlich und melancholisch präsentieren sich im Oderbruch Männer vor der Kamera, die aus der Zeit gefallen scheinen. Ohne Job, ohne Familie, ohne Zukunft, von der Wiedervereinigung abgehängt. Krauss porträtiert sie mit grossem Respekt und mit der Handwerkskunst des analogen Fotografen. Ein Restposten Mensch auf dem Abstellgleis der Weltgeschichte.