Die Trauer stirbt zuletzt: Wie der Bataclan-Prozess zur nationalen Therapie wurde
Eine so monströse Tat erfordert zweifellos einen Monsterprozess. Schon seit letztem September dauert er in dem langen, eigens gebauten Gerichtssaal im alten Pariser Justizpalast. Sein einziges Thema ist der Terroranschlag vom 13. Dezember 2015 auf das Pariser Konzertlokal Bataclan, das Stade de France und mehrere Bistroterrassen – mit 130 Toten, über 400 teils Schwerverletzten, und zahllosen Traumatisierten.
«Von etwas Heissem» getroffen
Den Anfang des Prozesses machten die Opfer. Sie erzählten den fünf professionellen Schwurrichtern, 14 Angeklagten und 1800 Nebenklägern im Saal bisweilen stundenlang, was ihnen widerfahren war. Hans, ein 43-jähriger Familienvater, berichtete, wie mitten im Konzert der «Eagles of Death Metal» Schüsse einsetzten, wie er «von etwas Heissem» getroffen wurde und wie er auf eine Frau fiel, die schon tot war. In einer Blutlache stellte er sich selber tot, um nicht ebenfalls exekutiert zu werden.
Sechseinhalb Jahre nach dem Horror erzählten Eltern unter Tränen, wie ihre im Sterben liegende Tochter aus dem Saal des Massakers angerufen habe, um sich von ihnen zu verabschieden. Eine Frau im Rollstuhl, eine andere mit vierzehn Operationen im weggeschossenen Gesicht erzählten mit zitternder Stimme, wie es ihnen seither ergangen war. Auch andere berichteten von den Folgen, den Albträumen, dem posttraumatischen Stress, von Depressionen, Therapien, Jobpausen, Auszeiten.
Ab November rapportierten Elitepolizisten, die als erste in das Bataclan eingedrungen waren. Dann folgten Augenzeugen wie der damalige Staatspräsident François Hollande. Er liess sich von der gewieften Verteidigerin Olivia Ronen in die Enge treiben; unfreiwillig stützte er ihr Argument, die Terroristen hätten auf den Syrienkrieg reagiert, obwohl der Zeitablauf anders gewesen war. Als sich Ronen auch noch zur Behauptung verstieg, die Bataclan-Toten seien «kollaterale Opfer» des asymmetrischen Syrienkrieges, begehrte das Publikum im Saal mit wütenden Protestrufen auf.
Aus der Affäre gelockt
Im neuen Jahr wurden die 14 Angeklagten hinter Plexiglasscheiben per Mikrophon einvernommen. Wie schon beim Prozess der Charlie-Hebdo-Anschläge von 2020 fehlten die drei Haupttäter, die sich im Bataclan in die Luft gesprengt hatten. Die Hauptfigur des Prozesses war Salah Abdeslam. Der 32-jährige Franko-Marokkaner aus dem belgischen Molenbeek hatte die Killer vor das Bataclan gefahren. Nach einer viermonatigen Fahndung wurde der meistgesuchte und -gehasste Verbrecher Frankreichs gestellt. Von Gerichtspräsident Jean-Louis Périès geschickt aus der Reserve lockte, zeigte sich Abdeslam sogar zunehmend gesprächig. Gefragt, was er von den schrecklichen Enthauptungs-Videos der Terrormiliz IS in Syrien halte, meinte er schnippisch, Frankreich habe die Guillotine auch bis in die achtziger Jahre angewendet.
Die Frage, was Abdeslam eigentlich angetrieben hatte, blieb seltsam in der Schwebe. War er ein unbedarfter Mitläufer, der nie auf jemanden geschossen hatte, der seinen Sprengstoffgürtel nicht zündete – und der von der «Intelligenz eines leeren Aschenbechers» ist, wie sein Ex-Anwalt einmal sagte? Oder war er ein eiskalter Jihadist, der an einem lang geplanten Massenmord mitmachte und das Gericht nun gekonnt an der Nase herumführte? Sicher ist nur eins: Am Abend des 13. Novembers holte er sich, während seine Spiessgesellen im Bataclan ein Blutbad anrichteten, im McDonald’s ein «Menu Fish«. Als wäre nichts.
Zum Schluss bat Abdeslam die Opfer unter Tränen um Verzeihung. «Ich weiss, da ist noch viel Hass», sagte er. «Ich bitte Sie, mich mit etwas Mässigung zu hassen.» Unbeeindruckt, verlangte der Staatsanwalt für Abdeslam lebenslänglich ohne Möglichkeit frühzeitiger Entlassung. Die insgesamt 20 Angeklagten, von denen sechs unauffindbar sind, müssen allesamt mit harten Strafen rechnen.
Ein Dossier von einer Million Seiten
Mit der Zeit drängte sich hingegen eine andere Erkenntnis auf: Je länger der für die Nachwelt gefilmte Prozess dauerte, desto unmöglicher schien er. Die Justiz stiess in dem eine Million Seiten umfassenden Bataclan-Dossier eindeutig an ihre Grenzen. Und das Urteil wird «politisch» ausfallen. Die Angeklagten haben nicht ganz unrecht, wenn sie behaupten, ihre Aburteilung stehe seit Beginn fest.
Doch der Prozess hatte auch einen positiven Nebeneffekt: Er verhalf Frankreich und den übrigen Opfern zu einer Art abschliessender Gruppentherapie. Nach fast sieben Jahre Warten auf den Prozess diente das mehrmonatige Gerichtsverfahren dazu, eine endlos scheinende nationale und individuelle Trauerarbeit zu vollenden. Mit einem sehr emotionalen Gemeinschaftsgefühl. Ein Mann sprach von «Kommunion», und eine Frau fügte an, sie habe in dem Prozess erstmals das Gefühl gehabt, mit ihrem Leid nicht allein zu sein. Deshalb befürchtet sie auch, jetzt in ein neues Loch zu fallen.
Viele Überlebende aus dem Bataclan wollen sich nun für andere Terroropfer engagieren. Gelegenheit erhalten sie im September, wenn in Nizza der Prozess um den Lastwagen-Anschlag auf der Strandpromenade beginnt: Neben 86 Toten gab es dort 460 Verletzte und noch mehr indirekt Versehrte.