Jean-Marie Le Pen ist tot: Abgang einer schwarzen Seele
Er galt als Frankreichs Scheusal, als rassistischer Hetzer, gar als Folterer im Algerienkrieg (1954-1962). Jean-Marie Le Pen war stolz darauf, lachte darüber. Er schlug gegnerischen Politikerinnen ins Gesicht, verharmloste die Gaskammern des Zweiten Weltkrieges als «Detail der Geschichte»; er höhnte mit vorgeschobener Unterlippe, und sein ausdrucksloser Fischblick – auch wegen eines Glasauges – machte ihn nicht einnehmender.
Und doch konnte man mit ihm fast Mitleid kriegen, wenn man ihm in seiner Villa Montretout im noblen Pariser Aussenviertel Saint-Cloud gegenübersass. Der hochgebildete Franzose, der druckreif sprach, war ein politischer Verlierer, der es nie in ein wichtiges Amt oder den Elysée-Palast geschafft hatte. Der Tod drang schon aus allen Poren, düstere, bittere, ja toxische Worte kamen aus einer ebensolchen Seele.
Das von der Migration überschwemmte Europa sei dem Untergang geweiht wie einst das römische Reich, meinte er mit schwerer Stimme; Frankreich werde vom deutschen Wirtschaftsmotor besiegt, nachdem es allen militärischen Angriffen des 20. Jahrhunderts von jenseits des Rheins getrotzt habe.
Und seine eigene Bewegung namens Front National (FN), unter Führung Marine Le Pens zum moderateren Rassemblement National (RN) mutiert, werde auch nicht überleben, prophezeite «der Alte», wie man ihn in Frankreich nannte. «Marine wird noch ihre eigene Bewegung in die Luft jagen», sagte der Familienpatriarch, der das Wort «Tochter» im Gespräch nie benutzte.
Statuen von Hitlers Bildhauer
Immer wieder irrte sein einäugiger Blick durch eine Welt von vorgestern: Sein verstaubtes Büro war vollgestopft mit Fotos, die ihn als stolzen Vater inmitten von drei Blondinen zeigten – seine Töchter Marine, Marie-Caroline und Yann. In den Regalen verstaubten alte Bücher und Vinyl-Platten mit Armeeliedern. Unübersehbar zwei kleine Statuen von Hitlers Bildhauers Arno Breker.
Nur einmal erlebte Frankreich seinen Scharfmacher vom Dienst munter und fröhlich. Das war am 21. April 2002, einem Datum, das den Franzosen ein Begriff ist wie den Amerikanern «Nine eleven». Am «21 avril» zog Jean-Marie Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen mit 16,9 Prozent der Stimmen in den zweiten Wahlgang gegen Jacques Chirac ein. Den als gesetzt geltenden Sozialisten Lionel Jospin (16,2 Prozent) schlug Le Pen aus dem Feld. Auf der Linken machte sich an jenem Abend Schockstarre breit – Le Pen trällerte hingegen vor Anhängern: «Oh, wie ist das Leben schön, wie ist der Himmel blau.»
Es war sein grösster politischer Coup. Le Pen war in seinem Politikerleben schon öfters zu Boden gegangen, um sich wieder hochzurappeln. Einmal sogar ganz physisch: 1976 entging er im Schlaf knapp einem Bombenattentat. Wobei angemerkt wäre, dass sein Glasauge nicht daher rührte, auch nicht von einer Schlägerei, wie es bisweilen heisst, sondern von einer Augenkrankheit.
In die Politik hatte es den bretonischen Fischersohn schon als 27-Jährigen verschlagen. 1956 wurde er auf der Liste von Pierre Poujade der jüngste Parlamentsabgeordnete Frankreichs. Er trat für das Kleingewerbe ein und gab mit einem ehemaligen Waffen-SS politische Schallplatten heraus. Die Wehrmachtslieder in seinem Büro waren darunter noch die harmloseren.
In der Folge pflegte Le Pen Umgang mit Vichy-Veteranen und anderen Nazi-Kollabos. Er landete im politischen Schmuddeleck und verschwand dann von der Bildfläche. 1958 meldete er sich zum Kriegsdienst in Algerien, wo er nach Augenzeugenberichten als Leutnant auch an Folterungen mit der «Gégène» (Stromgenerator) teilnahm. Er selbst bestritt das; manchmal liess er die Antwort auch offen. Nichts amüsierte ihn mehr, als verabscheute Reaktionen zu ernten.
De Marionette macht sich selbstständig
1972 kehrte er auf die Pariser Politbühne zurück, als ihn der neofaschistische Ordre Nouveau an die Spitze des neugegründeten Front National stellte. Aber siehe da, die vermeintliche Marionette Le Pen machte sich selbstständig und eliminierte die Exponenten des Ordre Nouveau. Nur das faschistische Flammensymbol wahrte er.
Wähler gewann er damit kaum. Ein Jahrzehnt blieb der FN erfolglos. Le Pen war aber zäh. Er hielt auch dann Parteiveranstaltungen ab, wenn nur ein einziger Besucher kam. Auftrieb erhielt er, als ihm ein reicher Industrieller auf nicht restlos geklärte Weise 30 Millionen Francs (4,6 Mio. Euro) vererbte. So konnte Le Pen auch bei den Präsidentschaftswahlen antreten.
Doch erst François Mitterrand verhalf dem FN 1986 mit einer Wahlrechtsreform, welche die Gaullisten schwächen sollte, unverhofft in die Nationalversammlung. Le Pen entdeckte die Wirkung der Massenmedien und gezielter Verbalprovokationen. Am Fernsehen kam das eloquente Grossmaul erst richtig zum Tragen.
Die Republik stellte sich gegen ihn
Bei den Präsidentschaftswahlen 1988 schaffte Le Pen seinen ersten Durchbruch mit 14,5 Prozent der Stimmen. Viel weiter brachte er es nie. 1999 verliess auch sein Chefideologe Bruno Mégret die Partei.
Sein triumphaler Einzug in das Präsidentschaftsfinale im Jahre 2002 brachte ihn letztlich auch nicht weiter: Das republikanische Frankreich stellte sich geschlossen hinter Chirac (82 Prozent). 2011 hievte er seine Tochter Marine an die FN-Spitze. Das Duo gefiel sich in seiner Doppelrolle: Er gab sich provokativ, sie salonfähig. Aber zwei Le Pens ist einer zu viel.
Sieempfangihnbald als Hemmschuh für ihre eigenen Ambitionen und warf ihn 2014 aus der Partei. Er musste zusehen, wie seine Tochter seine Rattenfängerthesen – Remigration, Todesstrafe, EU-Austritt – abschwächte. Und wie sie bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 im zweiten Durchgang gegen Emmanuel Macron fast 34, dann 42 Prozent der Stimmen machte. Das war doppelt so viele wie er in seinen besten Zeiten geschafft hatte – Zeichen genug, dass er politisch gescheitert war. Sollte seine Tochter 2027 in den Elysée-Palast einziehen, wäre das immerhin ein posthumer Sieg über seine ärgste Feindin, die französische Republik.