Gerangel um die besten Kleidungsstücke: Warum ein wichtiges Angebot für Asylsuchende in Gefahr ist
«Das ist ja wie beim Black Friday», ruft eine freiwillige Helferin während der Türöffnung der Kleiderabgabe im Jugendtreff «Wenk» in Aarau. Was sie meint: Die Nachfrage ist an diesem Nachmittag sehr gross. Die Menschentraube, die um 14 Uhr vor dem Eingang wartet, stürmt erwartungsvoll zu den Kleidern.
Seit 2016 findet die Kleiderabgabe des Vereins Netzwerk Asyl Aargau im «Wenk» statt. An jedem ersten Dienstag im Monat können Asylsuchende und vorläufig Aufgenommen (Status N und F), rund 3200 Personen im Aargau, oder Ukraine-Flüchtlinge mit Schutzstatus S, im Aargau rund 5100 Personen, kostenlos gespendete Second-Hand-Kleidung auswählen und mitnehmen.
Menschen mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung (Status B oder C) bezahlen zwei Franken pro Stück. Mit dem eingenommenen Geld werden die ÖV-Kosten der Helfer bezahlt. Auch Sozialhilfeempfänger sind willkommen. Besser gesagt: wären. Sie kämen aber kaum, berichten die Organisatorinnen, die eine gewisse Scham dahinter vermuten.
Die beiden Küttigerinnen Esther Nützi, 63, und Isabelle Meier, 55, sowie Johanna Scherer, 75, aus Lenzburg organisieren die Kleiderabgabe seit dem Start des Angebots 2015.
Hinter jeder Kleiderabgabe steckt viel Arbeit: Zwei Stunden vor der Türöffnung treffen Organisatorinnen sowie Helferinnen und Helfer im «Wenk» ein, um die gespendeten Kleidungsstücke zu sortieren und den Raum einzurichten. Dafür müssen Kleiderstangen und Kleiderboxen aus dem Keller geholt werden, wo sie ihre Sachen lagern dürfen. Nach der Veranstaltung muss im Jugendtreff immer alles wieder sauber aufgeräumt werden. Kurz bevor es losgeht, wird noch besprochen, wer im Team welche Aufgaben übernimmt.
Die Pandemie brachte Veränderung
In den vergangenen Jahren hat sich die Organisation immer wieder verändert. Die Corona-Pandemie hat auch die Kleiderausgabe beeinflusst. Nach einigen Ausfällen konnte sie unter strengen Regeln wieder stattfinden. Zuerst wurde sie jeden zweiten Dienstag im Monat durchgeführt, seit dem Herbst 2023 noch einmal monatlich. Die Reduktion der Ausgabetage habe die Stimmung nachhaltig verändert, erzählt Esther Nützi.
Vor der Pandemie sei die Veranstaltung gemütlich abgelaufen und die Besucherinnen und Besucher hätten in Ruhe die Kleider aussuchen können. Jetzt herrsche ein gewisser Konkurrenzdruck, die Leute hätten Angst, dass ihnen die guten Stücke vor der Nase weggeschnappt würden.
Die Folgen der Zunahme von Asylgesuchen seien vor allem bei den Männerkleidern bemerkbar. Während es immer genügend Frauenkleider gebe, komme es gerade bei T-Shirts, Pullovern und Schuhen für Männer zu Engpässen, berichtet Johanna Schaerer. Dies sei aber schon länger so, auch weil Männerkleider deutlich weniger gespendet werden.
Begehrt seien Frotteetücher und Bettbezüge, die ebenfalls selten gespendet werden. Kaum zu gebrauchen seien hingegen freizügige Frauenkleider. Dies wegen des religiösen Hintergrunds der Besucherinnen. Viele von ihnen sind Muslimas.
Zufriedene Besucher
Zwischen den Kleiderstangen wird in verschiedenen Sprachen diskutiert, welche Winterjacke am besten passt oder ob ein neues Frotteetuch benötigt wird. Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern nutzen das Angebot im «Wenk». Es ist klar geregelt, dass jede Person 20 Kleidungsstücke pro Saison mitnehmen darf.
Damit die Organisatorinnen den Überblick behalten, notiert Johanna Schaerer beim Ausgang in einer vorgedruckten Liste die ausgewählten Kleidungsstücke der Besucher, die an dieser Stelle auch ihren Ausweis zeigen müssen. Diese sind dort mit Namen und Aufenthaltsstatus aufgeführt. Neue Besucher werden von Hand in die Liste eingetragen.
Sedat aus der Türkei ist zum ersten Mal bei der Kleiderausgabe in Aarau. Er habe nach einem Pulli gesucht, diesen auch gefunden und sei zufrieden mit seinem Besuch im «Wenk», sagt er.
Etwas erschöpft sitzt die Ukrainerin Tatiana auf dem Sofa neben dem Ausgang. Sie sieht im Besuch der Kleiderausgabe vor allem eine gute Ablenkung zu ihrem Alltag. «Ich habe nicht viel gebraucht und deshalb auch nur zwei Frotteetücher ausgewählt. Andere Menschen hier brauchen die Kleider eher,» erklärt sie ihre Auswahl. Froh wäre sie um einen Bettbezug gewesen, den sie aber nicht gefunden habe. Ein kleines Mädchen, das mit seinem Vater im «Wenk» ist, zeigt stolz den neuen Schneeanzug.
Asylsuchende arbeiten mit
Neben den drei Hauptorganisatorinnen gehören auch drei Helferinnen und vier Helfer zum Team. Alle arbeiten ehrenamtlich. Das Helferteam besteht aus Asylsuchenden und aus Personen, die einen Schweizer Pass oder die Aufenthaltsbewilligung C haben.
Andrej ist Teil des Helferteams. Er ist vor sechs Monaten aus der Ukraine in die Schweiz gekommen und lebt jetzt in Buchs. Die Kleiderabgabe sei eine gute Möglichkeit, beschäftigt zu sein, Deutsch zu üben und neue Bekanntschaften zu machen. Bis er die Sprache besser beherrscht und einen festen Job suchen kann, arbeitet er bei der Kleiderabgabe.
Kanchana aus Indien gefällt vor allem der Austausch mit unterschiedlichen Menschen und das Kennenlernen von anderen Kulturen. Auch für ihre Deutschkenntnisse sei die Arbeit gut. Und Esmeralda aus Albanien berichtet, dass ihr die Freiwilligenarbeit Freude bereite, auch wenn es viel zu tun gibt.
Zukunftschancen für freiwillige Helfer
Esther Nützi sieht in der Kleiderabgabe nicht nur eine Möglichkeit, Menschen mit wenig Geld mit Kleidern zu versorgen. Diese müssten mit 9.50 Franken pro Tag auskommen. Umgekehrt sei die Arbeit eine wichtige Schule für die Helfer und Helferinnen, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus in der Schweiz noch nicht arbeiten dürfen.
«Hier lernen sie Teamarbeit, Pünktlichkeit und Toleranz für andere Länder und Kulturen», erklärt Nützi. Sie bekämen das Gefühl, etwas Nützliches zu tun. Wenn Helfer ihre Arbeit bei der Kleiderabgabe beenden, erhalten sie ein Bestätigungsschreiben. Viele von ihnen hätten jetzt eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Was bedeutet Freiwilligenarbeit?
Auch eine Stunde nach Türöffnung ist der Jugendtreff voll mit herumwuselnden Menschen auf der Suche nach passenden Kleidern. Lang ist die Schlange, um die ausgewählten Artikel in die Liste eintragen zu lassen. Kinder spielen am Töggelikasten und warten auf ihre Eltern.
Bis im März 2024 kümmern sich Nützi, Schaerer und Meier um das Projekt. Weil sie berufliche und private Verpflichtungen haben, sind sie auf der Suche nach einer Nachfolge – gefunden haben sie aber noch niemanden. Freiwilligenarbeit sei spannend, da immer wieder neue Ideen umgesetzt werden können. Natürlich würden auch anstrengende Phasen dazugehören, erklärt Nützi.
Die Organisatorinnen sind etwas nervös: «Es wäre schade, wenn das Projekt an der fehlenden Nachfolgefrage scheitern würde.»