Lange interessierte sich niemand für seine Funde: Wie Kunstmaler Roman Candio als Bub in Fulenbach Funde aus dem verschollenen Städtchen Fridau sammelte
Wenn er jetzt schon wieder einmal in Fulenbach sei, dann wolle er auch in den Graben, sagt Roman Candio und dreht sich um, der überwucherten Senke entgegen, die von der Fridaustrasse weg vorbei in Richtung Aare führt. Hier steigt der knapp 90-jährige Candio nun in das Dickicht, übertritt Steine, duckt sich unter Ästen hindurch, drückt immer wieder stachelige Brombeersträuche weg.
Roman Candio, der Solothurner Kunstmaler, ist hier in Fulenbachs Fridaustrasse aufgewachsen. Als Schulbub unternahm er so manchen Streifzug durch diesen Graben und die Kiesgrube nebenan, die damals gleich vis-à-vis von Candios Elternhaus in Betrieb war. Auf dem Stück Land, etwas grösser als zwei Fussballfelder, stand einst das mittelalterliche Städtchen Fridau. Heute ist die Kiesgrube zugeschüttet, das Land überbaut. An Fridau erinnert noch die Senke, die vor Jahrhunderten als Stadtgraben Fridaus ausgehoben wurde, der Strassenname Fridaustrasse und der Flurname des Gebiets: Stadtacker.
Fulenbach füllt den Oltner Vortragssaal
Gleichentags in Olten: Gut hundert Personen zwängen sich an diesem Abend in den Konradsaal im Haus der Museen, nicht alle finden einen Sitzplatz. Sie wollen den Vortrag hören von Andrea Nold, Projektleiterin der Fachstelle Baugesuche und Fundstelleninventar des kantonalen Amts für Denkmalpflege und Archäologie. Die Archäologin präsentiert ihre Forschung zum untergegangenen Städtchen Fridau. Auf die Frage, wer denn im Publikum aus Fulenbach komme, hebt fast die Hälfte aller Anwesenden die Hand. Auch Roman Candio sitzt im Publikum, auf einem reservierten Platz in der vordersten Reihe. Denn Nolds Erkenntnisse sind auch ihm zu verdanken.
Candio interessierte sich früh für Geschichte und Archäologie. Sein Vater legte grossen Wert auf gute Bildung der Kinder und besuchte mit ihnen so manches Museum. Umso aufregender muss es für den Schulbuben Candio Mitte der 1940er-Jahre gewesen sein, dass sich gleich gegenüber von seinem Elternhaus eine Kiesgrube durch das Gelände frass.
«Sie trugen den Humus ab und gruben darunter die Kieselschicht weg, bis der Stein zum Vorschein kam», erinnert sich Candio. Das Gestein wurde dann im Kieswerk gebrochen. «Die Maschinen machten einen Höllenlärm.» Aareseitig blieb ein Saum stehen, an dem ein Querschnitt des Erdreichs abzulesen war: Klein-Candios ganz eigene archäologische Ausgrabung. «Darin fand ich Holzstückchen und Tonscherben», erklärt Candio. Manche der Scherben habe er auch zusammenzusetzen versucht, zu einem Krug oder einer Schale vielleicht.
Weil er tagsüber in die Schule musste und also Funde in den Zähnen des Kiesbrechers hätten zermalmt werden können, traf er mit den Arbeitern eine Abmachung: «Sie sammelten für mich alles, was nach Archäologie aussah.» Kehrte Candio abends von der Schule zurück, holte er die Beute des Tages ab. Er habe vermutet, dass seine Fundstücke vom Städtchen Fridau stammen. «Aber damals interessierte das niemanden.»
«Kommen Sie mal her, der Bub findet da Sachen»
Bis eines Tages Fulenbachs Gemeindeschreiber, ein Nachbar von Candio, den Bub bemerkte, der da Nachmittage, Abende und Wochenenden lang in der Kiesgrube vor seinem Haus umherstöberte.
Candio zeigte ihm die Kartonschachtel mit all den Funden. Der Gemeindeschreiber rief den Kantonsarchäologen: «Kommen Sie mal her, der Bub findet da Sachen», schildert Candio die Unterhaltung der beiden. «Ist ja nur Mittelalter», habe der Kantonsarchäologe befunden. «Er war vor allem an der Jungsteinzeit interessiert, am Mittelalter nicht», erzählt Candio.
Dem Gemeindeschreiber blieb nichts anderes übrig, als Klein-Candio den abschlägigen Bericht zu überbringen, zusammen mit der Kartonschachtel. Entmutigen liess sich der Bub aber nicht: Er sammelte weiter. Als der Kiesabbau Ende der 1940er-Jahre eingestellt wurde, waren auch Candios Ausgrabungen vorbei. Da hatte er etwa 450 Funde in seiner Kartonschachtel archiviert. «Ich habe die Kartonschachtel dann immer mit mir mitgezügelt.»
Der Sommer 1954 im Garten
Ein paar Jahre später, Candio war inzwischen im Teenageralter, malte er die Landschaft um sein Elternhaus Dutzende Male, auch den Stadtacker. Das erste Gemälde des Gebiets stammt von 1950, Candios liebstes ist allerdings ein Aquarell von 1954. Es zeigt den Landstreifen von der Höllstrasse hoch bis zum Stadtgraben. Die «Fulenbacher-Mappe», wie Candio die Sammlung mit Zeichnungen, Aquarellen und Ölgemälden mit Fulenbacher Sujets nennt, sei immer wichtig gewesen für ihn. Auch sie zügelte er fortan mit.
1955 war der Kiesabbau schon einige Jahre eingestellt. Da wurde die abgetragene Fläche mit Abfällen aus der Murgenthaler Industrie aufgefüllt, Putzlumpen und Eisenteile, und dann mit Erde überdeckt, später überbaut.
Von der Kartonschachtel ins Dorfmuseum
Jahre vergingen, bis Fulenbach 1995 ein Dorfmuseum eröffnete. Candio war inzwischen 60 Jahre alt und längst ein etablierter Kunstmaler. Die Kartonschachtel mit den Funden aus Kindertagen hatte er stets sicher aufbewahrt. Als er von der Eröffnung erfuhr, übergab er sie dem neuen Museum. «Die liessen die Funde dann im Landesmuseum begutachten», erzählt er. Die Untersuchung bestätigte: Die Stücke stammen aus dem Mittelalter.
Wieder vergingen Jahre. 2021 erreichte eine Anfrage einer Fachzeitschrift Archäologin Nold: Ob sie nicht einen Artikel verfassen möchte. Nold entschied sich, über das untergegangene Städtchen Fridau zu schreiben. Bald fiel ihr auf, wie verwirrend die Quellenlage war. So beschloss sie, die Geschichte neu aufzuarbeiten, auch wenn ihr dafür neben dem Tagesgeschäft als Leiterin des Fundstellenarchivs nur wenig Zeit blieb.
Da erinnerte sie sich an einen Zeitungsartikel, in dem sie von den Stadtacker-Funden in Fulenbachs Dorfmuseum gelesen hatte. Nold rief an. Die Kulturgutverwalterin der Gemeinde bestätige ihr die Stücke und Nold holte sie ab, um sie in Solothurn reinigen, vermessen und archivieren zu lassen. Da erzählte ihr die Verwalterin von deren Finder Roman Candio. Also rief Nold auch ihn an. «Er war vif und freute sich über die Anfrage», erzählt sie.
Im März 2022 besuchte sie den Kunstmaler. «Er erinnerte sich noch genau», erzählt Nold. Candio zeigte ihr die Bilder aus seiner Fulenbacher-Mappe und fertigte aus dem Gedächtnis eine Skizze des Querschnitts an, der die Kiesgrube achtzig Jahre zuvor hinterlassen hatte.
Die Funde, Skizzen und Aquarelle Candios bestätigten, was aus anderen Quellen bekannt sei, erklärt Nold. «So entsteht ein rundes Bild vom Städtchen Fridau.» Die Kantonsarchäologie hat Candios Stücke und auch seine Skizzen archiviert. Nold freut es: «Wir sind wohl die einzige Behörde, die einen echten Candio im Archiv haben.»