Ist Lamine Yamal schon ein Spieler für die Ewigkeit? Vergleiche mit Lionel Messi und Diego Maradona sind verfrüht
Wissen Sie noch, was sie vier Tage vor ihrem 17. Geburtstag gemacht haben? Ich habe in meinem Tagebuch nachgeschaut. Da steht: «Am Mittag mit Mario und Sven in der Mensa. Dann Schule bis 16.00 Uhr. Zuhause Zvieri essen und Hausaufgaben machen. Abends Radio hören.» Ein ganz normaler Tag im Leben eines Teenagers.
Christoph Kramer, mit Deutschland vor zehn Jahren Weltmeister, beantwortete die gleiche Frage am Dienstag im ZDF. Dort arbeitet er während der EM als TV-Experte. Er habe vor seinem 17. Geburtstag wahrscheinlich «auf eine Latein-Prüfung gelernt und im Garten die Tore der Fussball-WM 2006 nachgespielt».
Lamine Yamal wird am Samstag 17 Jahre alt. Und was hat er gemacht vier Tage vor seinem Geburtstag? Hat mal eben den EM-Halbfinal entschieden. Wurde der jüngste Torschütze in der Geschichte der Europameisterschaft. Vor 70’000 Zuschauern im Stadion und hunderten Millionen weltweit am TV. Der Fussball hat seinen nächsten Weltstar geboren. So heisst es nun. Yamal wird wahlweise als «Wunderkind» oder «Genie» oder «Super-Teenie» beschrieben.
Oder als der «Spieler, der die EM 2044 entscheiden könnte», wie die englische Tageszeitung «The Telegraph» schrieb. Oder als «Spieler für die Ewigkeit», wie die spanische Sportzeitung «Marca» jubelte. Und hier wird es gefährlich für Yamal. Er mag besser sein, als jeder andere Fussballer vor ihm in diesem Alter. Er mag Altersrekord um Altersrekord brechen. Aber ihn, den Teenager mit Zahnspange und heller, kindlicher Stimme, jetzt schon dereinst in der Kategorie der Maradonas, Messis und Cristiano Ronaldos zu sehen, ist zu früh. Viel zu früh.
Ja, vielleicht wird Yamal wirklich einmal eine Legende und ein Genie wie Lionel Messi. Aber es gibt genügend Beispiele für Wunderkinder, die dann nicht den Weg gemacht haben, der ihnen vorgezeichnet schien. Vielleicht wird Yamal nämlich kein zweiter Messi, sondern ein zweiter Bojan Krkic.
Bojan Krkic? Kennen Sie nicht (mehr)? Das ist jener Spieler, bei dem gegen Ende der Nullerjahre keiner den Vergleich mit Messi scheute. Er war kaum 17, als er für den FC Barcelona bei den Profis debütierte. In seiner ersten Saison schoss er zehn Tore, da war er noch nicht 18. Dann absolvierte er bald sein erstes Länderspiel für den damaligen Europameister Spanien und noch vor seinem 19. Geburtstag war er schon Champions-League-Spieler.
Doch so ging es nicht weiter. Bojan wollte zu schnell zu viel. Das Umfeld wollte von ihm zu schnell zu viel. Er war häufig verletzt, hatte keine Geduld. Ab 21 begann er fast jährlich den Klub zu wechseln, bis er nach Stationen in Nordamerika und Japan vor einem Jahr mit 32 die Karriere beendete. Keiner hat davon Notiz genommen.
Es ist doch so: Bei 16- oder 17-jährigen Athleten sehen wir erst die Veranlagung. Das Talent. Aber niemals wissen wir, wie sich der Teenager als Persönlichkeit entwickelt, wie sein noch nicht ausgereifter Körper auf die Strapazen des Profisport – die physischen und die psychischen – reagiert.
Deshalb tun wir gut daran, uns vorderhand einfach über Yamal im Hier und Jetzt zu freuen. Über seine Dribblings und seine Tore. Über sein sympathisches Lachen und seine unbeschwerte Art, wenn er mit Team-Kollege Nico Williams mittels «Schere, Stein, Papier» ermittelt, wer in einer Spielpause als erster aus dem Bidon trinken darf.
Der spanische Mittelfeldstratege Rodri hob nach dem Halbfinal wohltuend den Mahnfinger: «Lamine Yamal ist noch ein Kind. Er muss von uns beschützt werden.» Und sein Trainer Luis de la Fuente sagte: «Ich möchte ihm einen Rat geben: Er soll weiter demütig bleiben.»
Den Rat möchte man gerne auch an Yamals Umfeld richten. Wie in diesen Tagen durchsickerte, soll der Vertrag mit dem FC Barcelona, den Yamals Vater im letzten Herbst unterzeichnete, eine Ausstiegsklausel beinhalten: Diese setzt faktisch den Wert fest, den Yamal als Fussballer haben soll: Eine Milliarde Euro.
Diese Summe ist so absurd hoch, wie es die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit ist, mit der Yamal in Zukunft wird leben müssen. Und das lässt befürchten, dass er auf seinem Weg vom «Wunderkind» zur «Legende» weitaus grössere Herausforderungen antreffen wird, als im EM-Halbfinal den Franzosen Adrien Rabiot auszudribbeln und den Ball mit einem Schlenzer aus 25 Metern ins Tor zu befördern.