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Berufsbeistände haben zu wenig Zeit: Weshalb die Politik mehr in Menschen investieren sollte

Jugendliche in schwierigen Lebenslagen benötigen enge Begleitung, damit sie ihren Platz in der Gesellschaft finden. Die Investition in die aufwendige Beziehungsarbeit mit Menschen könnte sich für die öffentliche Hand unter dem Strich auch finanziell lohnen, schreibt Philipp Suter.

Daniel hatte zwei Hobbys: Kiffen und Gamen, aber keinen Job und keine Hoffnung. Weil seine Mutter mit der Erziehung überfordert und der Vater total abwesend war, verbrachte Daniel seine Jugend in Heimen. Dort verhielt er sich aggressiv und unangepasst, dass er für die Institutionen jeweils nach wenigen Monaten nicht mehr tragbar war.

An einem Samstag rief er mich zum ersten Mal an. Ich versuchte ihn für ein Treffen mit Elja, einem guten Trainer und Beistand, zu gewinnen. Am Telefon antwortete Daniel bloss mit Ja oder Nein, und er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Das ist ein ziemlich typisches Verhalten junger Männer, die aus der Bahn geworfen wurden: Sie haben kaum Selbstvertrauen, legen sich aber einen Panzer aus Coolness und Abgebrühtheit zu, mit dem sie Schwächere beeindrucken und Lehrpersonen provozieren können.

Zum ersten Treffen mit Elja hatte ich Daniel zu einer Waldhütte bestellt, wo sie im Auftrag eines Unternehmers für eine Grillstelle Holz hackten. Hier konnte er seine Kraft und Geschicklichkeit beweisen und sich in Ausdauer üben – eine gute Voraussetzung, um mit ihm ins Gespräch zu kommen: «Welche Arbeiten magst du? Hattest du irgendwann einmal einen Traumberuf, einen Wunsch, in welche Richtung es gehen könnte? Was hinderte dich daran, dein Ziel zu erreichen? Arbeitest du gerne mit Tieren, mit Menschen, mit Maschinen?»

Bei Vogelgezwitscher und angenehm kühler Waldluft öffnete der abgebrühte Daniel gegenüber Elja von Tag zu Tag mehr. Aus einsilbigen Antworten wurden kleine Erzählungen – und auch Elja gab einige Herausforderungen aus seinem Leben preis.

Gemeinsam lachen – und etwas einfordern

Diese Art der Begleitung von Menschen in Not braucht viel Zeit und die Bereitschaft, sich einzulassen. Es geht oft darum, zusammen etwas zu leisten, zu lernen, auch zu lachen und gemeinsam Sehnsüchte, Wünsche und Verschüttetes freizulegen, aber auch ohne Umschweife etwas einzufordern.

Ich durfte während dreissig Jahren mit zahlreichen Berufsbeiständen (früher hiessen sie Vormunde) zusammenarbeiten. Diese von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eingesetzten Berufsbeistände könnten wie Elja eine solche ermutigende und stärkende Arbeit leisten, wenn ihnen die Politik endlich mehr Zeit dafür gewähren würde. Dann gebe es auch weniger Bedrohungen, weil sich die Betreuten wahrgenommen und ernst genommen fühlen. Denn mehr als die Hälfte der Berufsbeistandspersonen berichtet gemäss einer Umfrage des Berufsverbandes von Drohungen. Mit mehr Zeit für die Begleitung könnte mancher Fall unter dem Strich sogar mit weniger finanziellem Aufwand geführt werden, weil gemeinsam tatsächlich Lösungen für ein Problem erarbeitet werden könnten.

Es ist wie beim Fussball: Lässt man die Jungs auf dem Feld bloss ein bisschen rumspielen, weil die Zeit für intensives persönliches Training fehlt, wird es im Team nie einen Granit Xhaka geben. Glauben Sie mir, ein solcher Fussballer wie der Captain der Schweizer Fussballnationalmannschaft, wäre nicht so stark geworden, wenn seine Trainer oder seine Beistände so wenig Zeit für Vertrauensbildung, Beziehungsarbeit und gute Trainings zur Verfügung gehabt hätten.

Im reichen Kanton Zug (mit einem Eigenkapital von 2,35 Milliarden Franken per Ende 2023) und auch in anderen wohlhabenden Kantonen kommt es immer wieder vor, dass ein Berufsbeistand letztendlich gerade mal eineinhalb Stunden Zeit pro Monat hat für seine direkte Arbeit von Mensch zu Mensch.

Kennen Sie einen bewährten Berufsbeistand oder einen guten Trainer, welcher mit so wenig Zeit bei einem suchenden oder verletzten Menschen etwas bewegen kann?

Von einem grossen Talentförderer, von Werner Hegglin, langjähriger Direktor des Lehrerseminars St. Michael im Kanton Zug, habe ich vor Jahren den Satz aufgesogen: «Menschen kann Mann und Frau nicht verwalten.» Wie recht er doch hatte, und doch wird dies immer wieder von Berufsbeiständen gefordert.

Aus Daniel wurde kein Fussballstar. Durch die vorübergehend enge und zeitintensive Begleitung durch Elja, der Zusammenarbeit mit einem beziehungsstarken Therapeuten und dem Einbezug des abwesenden Kindsvaters konnte er aber die Kurve kriegen und arbeitet heute im ersten Arbeitsmarkt in der Logistik.