Der ewige Kampf um die Bundesratssitze: Regierungsreform statt Poker um Köpfe
Schon mehr als 100 Tage lang tobt Krieg in der Ukraine. Täglich wächst die Verzweiflung über getötete Frauen und Kinder, um die Vertreibung eines Volkes aus ihren Dörfern und Städten, über die anhaltende Bombardierung ihrer Behausungen.
Zu Recht dominieren der Krieg und seine Auswirkungen, auch die wirtschaftlichen, die Politik. Trotzdem dürfen die innenpolitischen Fragen nicht vergessen gehen. Etwa der in Zickzack verlaufende Thesenstreit um die richtige Form der Neutralität. Oder das eigentlich besser eine Weile in Ruhe zu lassende Verhältnis zur EU. Und die nächsten Parlaments- und Bundesratswahlen, die ihre Schatten vorauswerfen.
So streute eine Zürcher Zeitung Salz in die Wunden der da und dort gebeutelten SVP, indem sie ihrem alles in allem recht erfolgreichen Bundesrat Maurer offen den Rücktritt noch dieses Jahr empfahl. Zwei Parlamentskommissionen kritisierten eben Kompetenzüberschreitungen bei SP-Bundesrat Berset in der Pandemie, und seit Monaten schwelt ein Prestigeringen zwischen den FDP-Regierungsvertretern Cassis und Keller-Sutter. Dies auch vor dem Hintergrund der Frage, ob die ökologischen Parteien im Bundesrat vertreten sein müssten.
Der Poker um Köpfe und Parteien lenkt indes ab von dem, was wirklich nötig wäre: eine Regierungs- oder Bundesratsreform. Seit Bestehen des Bundesstaats (1848!) blieb das Wahlverfahren unverändert. Bei der Wahl ist einzig «darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind». Aber das Wahlverfahren führt in der Praxis zu weiteren Einschränkungen.
In sieben getrennten Wahlgängen hat das Parlament geheim zuerst die bisherigen Bundesräte nach Amtsjahren, danach allfällige freie Sitze zu bestimmen. Dieses Wahlprozedere ist überholt, führt es doch zu sattsam bekanntem, taktischem Wahlverhalten, um Kandidaturen auszubremsen oder spätere Retourkutschen zu vermeiden.
Weniger grundsätzlich ist die immer wieder diskutierte, aber nie realisierte Erhöhung der Zahl des Bundesratsgremiums. In der laufenden Session lag dem Parlament eine Aufstockung des Siebnergremiums auf neun Mitglieder vor. Doch die Idee wurde versenkt. Bei einer höheren Zahl Bundesratsmitglieder leidet das Kollegialsystem und wir nähern uns der Umwandlung des Gremiums zu (Fach-)Ministern mit der beliebigen Auswechselbarkeit durch einen Ministerpräsidenten oder eine Bundeskanzlerin.
Wem ist eigentlich ein Bundesrat verantwortlich? Einmal gewählt, läuft die Amtszeit von vier Jahren. Weder Partei noch Bundesversammlung noch Abstimmungsniederlagen können den Rücktritt erzwingen. Mit dem Kollegialsystem praktizierten Mitglieder des Bundesrats eine gewisse Distanz zur Parteipolitik. Wenn im Wahlkampf Bundesräte als Aushängeschilder ihrer Partei fungieren, verliert das geheime Wahlverfahren seinen Sinn.
Es wäre ehrlicher und transparenter, die Parteien würden im Voraus ihre Bundesratskandidaturen bezeichnen. Je nach Wahlergebnis gäbe es Verhandlungen über die Regierungszusammensetzung und deren Programm, die vom Parlament noch zu genehmigen wäre. Natürlich stellt sich die Frage, ob ein solcher Konsens auch das Wechselbad der Referendumsdemokratie überstehen würde.
Wollte man das verhindern, müsste eine feste Koalition gebildet werden. Eine etwa rechts der Mitte ohne die SP oder links der Mitte ohne die SVP. Die nicht im Bundesrat vertretenen Parteien wären dann zur permanenten Opposition mit einer Vielzahl von Referenden und Initiativen gezwungen. Um einer Lähmung des Systems vorzubeugen, müssten die Volksrechte revidiert und ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung ermöglicht werden.
Es würde sich lohnen, seit 1848 zum ersten Mal ernsthaft in National- und Ständerat eine solche Reformdiskussion zu führen, statt sich endlos mit der Bundesratszahl und ähnlich nebensächlichen Verwaltungsproblemen zu beschäftigen.