Warum haben so viele Leute so schlechte Laune?
Immer mehr Leute haben immer schlechtere Laune. Die lassen sie an denen aus, die sie dafür verantwortlich machen: den Regierungen. In manchen Ländern fanden 2024 Wahlen statt, in den USA, in Japan, Frankreich, Grossbritannien und so weiter. Und was noch nie so krass passierte: Überall wurden die Amtsinhaber regelrecht abgestraft. Die Diagnose der Medien: Die Leute sind unzufrieden, fühlen sich in ihren Nöten nicht ernst genommen, das empört sie, macht sie wütend. Sie sehen sich als Verlierer der Modernisierung, der Globalisierung. Mit dem Fortschritt ist da etwas schiefgelaufen.
In der Schweiz läuft das natürlich halb so wild. Immerhin sehen Meinungsforscher die Stimmung gegenüber der Regierung «auf einem Tiefpunkt». Kipp-Punkt: das Ja zur 13. AHV-Rente. Vorwurf: Bundesbern nimmt die Sorgen der Leute nicht ernst. Davon erholten sich Bundesrat und Parlament nicht. Siehe Abstimmung vom Wochenende. Dazu die latente Gereiztheit, die Verpöbelung des Umgangstons. Vom Boom psychischer Anfälligkeiten zu schweigen. Die schlechte Laune ist auch hier angekommen.
Am Lebensstandard liegt es nicht
Was genau drückt denn auf die Stimmung? Klar, die Krankenkassenprämien, die Mieten steigen. Für ein E-Bike scheint es den meisten dennoch zu reichen. Für ein neues Smartphone sowieso. Am Lebensstandard hängt die schlechte Laune also nicht. Eher an den Aussichten. An der Ahnung, unser Leben könnte härter werden, nicht rosiger. An der nervigen Vorstellung von Grenzen des Wachstums. Das schlägt schnell auf die Laune.
Denn was wir erwarten, ist: dass alles immer besser werde – und irgendwann vollends prima. Das hat uns die Moderne schliesslich versprochen, und das ging für meine Generation auch auf. Ab 1945 nahm die Geschichte nur eine Richtung: aufwärts. Stetig ging es voran – mit der Freiheit, dem Wohlstand, dem Wachstum. Mehr Bildung, mehr Freizeit, mehr Komfort, mehr Rente, mehr Betreuung, mehr Medizin … Nicht dass wir in Saus und Braus gelebt hätten, nein, wir kannten Armut oder doch Einschränkung, doch der Lauf der Welt war uns günstig, ersparte uns Kriege und gröbere Krisen. Und entschädigte uns für Fleiss und Arbeit prompt mit Fortschritt aller Art, erleichterte unser Leben mit Waschmaschine, Kühlschrank, Dampfbügeleisen, Auto, PC.
Steigerungslogik des Fortschritts
Davon lebt die westliche Moderne: von der Steigerungslogik des Fortschritts, vom Versprechen, alles werde immer besser. Und wenn der Fortschrittsmotor nun stottert? Dann fühlen wir uns hereingelegt und werden sauer. Oder schwindet nur der Glaube an Fortschritt?
Jedenfalls gibt es kaum noch Alte, die glauben, den Jungen eine bessere Welt zu hinterlassen. Was traurig ist. Und auch daran liegt, dass die Ambivalenz des Fortschritts stets aufdringlicher wird. Dass die Kollateralschäden stets lästiger werden: Klima, Plastikmüll, Stau.
Technisch ist ja allerhand Fortschritt unterwegs. Medtech, Greentech, künstliche Intelligenz gäben durchaus Stoff für Bilder, für Erzählungen einer glänzenden Zukunft. Jede vitale Gesellschaft lebte vom Appetit auf ein möglichst goldenes Zeitalter. Wir, ernüchtert durch den Wust von Krisen, richten unseren Appetit eher darauf, den Fortschritt zu sichern, den wir erreicht haben. Der aber reicht nicht für alle. Weshalb die Kämpfe erbitterter werden, gehässiger. Zum Beispiel: Alt versus Jung.
Der Verlust gehört zum Fortschritt
Wohin jetzt mit der schlechten Laune? Gar nicht so einfach. Wir haben halt im Fortschrittsglauben verlernt, mit Verlusten zu haushalten. Dabei gehört der Verlust ja zum Fortschritt. Denn wo alles möglich ist, da kann auch alles verloren gehen. Vor allem der Mensch selbst, wenn er sich verliert in der Endlosschlaufe von mehr und weiter und besser.
Eine Pause kann auch heilsam sein – eine Art gesellschaftliche Midlife-Krise, die uns zur Besinnung bringt. Um danach, ein Stück schlauer geworden, erneut loszulegen.