Kinder sind keine Porzellanpuppen – sie brauchen eine Umgebung, die ihnen nicht alles zu Füssen legt
Psychische Krankheiten waren im letzten Jahr die häufigsten Ursachen für Spitaleinweisungen von Jugendlichen. Besonders betroffen waren Mädchen und junge Frauen (plus 26 Prozent). Bei Knaben und jungen Männern betrug der Anstieg 6 Prozent. Die Junge Mitte schlägt deshalb Alarm und fordert schnellere professionelle Hilfe für Betroffene. Zu Recht. Wir brauchen eine grössere Sensibilität für die problematische psychische Befindlichkeit mancher junger Menschen.
Trotzdem geht in der Diskussion die andere Seite der Medaille nahezu vergessen: der Präventionsgedanke. Was kann unsere Gesellschaft dafür tun, damit Heranwachsende psychisch widerstandsfähiger werden? «Resilienzforschung» nennt sich die Disziplin, die sich mit der Thematik befasst. Sie fragt danach, welche Faktoren Kinder und Jugendliche widerstandsfähiger machen und nicht, warum sie derart verletzlich sind. Die Pandemie hat uns erneut vor Augen geführt, wie sehr die einen durch Krisen aus der Bahn geworfen werden und Depressionen oder Panikattacken entwickeln, während andere dieselbe Notlage relativ problemlos zu bewältigen scheinen.
Was kennzeichnet psychisch widerstandsfähige junge Menschen? Eine positive Einstellung, Zielstrebigkeit, starke soziale Beziehungen und mindestens eine Vertrauensperson, die an sie glaubt. Dazu kommen Hartnäckigkeit und Frustrationstoleranz. Solche schon etwas in die Jahre gekommenen Erkenntnisse haben bisher kaum dazu geführt, die zentrale Botschaft der Resilienzforschung zur Kenntnis zu nehmen: Kinder und Jugendliche sind keine Porzellanpuppen, sondern widerstandsfähige Geschöpfe – und vor allem solche, die es werden könnten.
Somit ist es eine zentrale Aufgabe unserer Gesellschaft, die Widerstandsfähigkeit der Heranwachsenden zu stärken, anstatt sich ausschliesslich auf Diagnosen und Behandlungen psychischer Probleme zu konzentrieren. Der Fokus ist ebenso auf die Prävention zu lenken und auf die Debatte, wer welchen Beitrag hierzu wann leisten soll. Ein solcher Perspektivenwechsel wendet sich ab vom ausschliesslichen Blick auf das vulnerable (verletzliche) hin zum widerstandsfähigen Kind. Allerdings ist es zu einfach, diese Aufgabe lediglich an die Elternhäuser zu delegieren und sie zur Einsicht aufzurufen, den Nachwuchs endlich «robuster» zu erziehen.
Dieser Perspektivenwechsel ist eine primäre Aufgabe von Gesundheits-, Sozial- und Familienpolitik, genauso von Fachinstitutionen, Sportverbänden, Jugendarbeit und kirchlichen Institutionen, die sich in diesem Bereich engagieren. Weshalb? Weil ein Grossteil der Väter und Mütter auf das setzt, was Fachleute empfehlen.
Auf einem solchen Fundament können Eltern erkennen, dass psychische Widerstandsfähigkeit nicht lediglich das Ergebnis einer «guten» Kindheit ist – einer umsorgenden, liebevollen, materiell gehaltvollen und sich ganz auf das Kind konzentrierenden Erziehung. Um widerstandsfähig zu werden, brauchen schon kleine Kinder eine Umgebung, die ihnen nicht alles zu Füssen legt. Verwöhnung provoziert Gewöhnung, stete Kontrolle und Anleitung würgt Neugier und Motivation und damit Selbstvertrauen ab. Widerstandsfähigkeit stellt sich dann ein, wenn sich Kinder für etwas anstrengen und um etwas kämpfen müssen. Belastungen und Fehlschläge machen Kinder stark. Sie lernen nicht nur aus fröhlichen und glücklich machenden Erfahrungen, sondern auch aus solchen des Scheiterns. Kinder ertragen vieles. Sie leiden nicht sofort, aber sie brauchen Seelentrost und liebevolle Ermutigung.
Die Krisenerfahrungen der letzten Jahre nötigen unsere Gesellschaft dazu, die Erziehung zur psychischen Widerstandsfähigkeit der heranwachsenden Generation ebenso hoch zu gewichten wie die Therapeutisierung der Jugend. Dies zu bewerkstelligen, ist eine unserer grossen Herausforderungen. Kinder sind unsere Zukunft – das gilt mehr denn je.
* Margrit Stamm: Die Autorin ist Erziehungswissenschafterin und emeritierte Professorin der Uni Freiburg