Kirchen in Not: Es wäre das falscheste, jetzt vor dem Zeitgeist einzuknicken
Die Bilanz ist zugegebenermassen erschütternd: Über 1000 Fälle sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche Schweiz, die im letzten Jahr in einer Studie an der Universität Zürich aufgedeckt wurden. Dass diese Verbrechen an meist unmündigen Kindern, soweit sie nicht schon verjährt sind, nicht straflos bleiben dürfen, steht ausser Frage. Und dass sie in weiten Kreisen unbeschreibliche Abscheu erregt haben, ist ebenfalls mehr als verständlich. Es ist denn auch zu zahlreichen Kirchenaustritten gekommen.
Trotzdem wird man den Eindruck nicht ganz los, dass sich viele über die fetten Schlagzeilen in der Presse freuen. Endlich kann man die katholische Kirche als solche, ihren Zölibat, ihre Sexualmoral und ihren Ausschluss der Frauen vom Priesteramt an den Pranger stellen. Nicht alle, aber doch viele möchten die Kirche am liebsten weghaben.
Dabei wird gerne vergessen, dass die Kirche in ihrer zweitausendjährigen Geschichte unser Abendland wesentlich mitgeformt hat. Nennen wir dazu ein paar Fakten: Im Mittelalter war die Kirche die fast alleinige Trägerin der Bildung und Kultur. Die Klöster errichteten eigene Schulen wie etwa in St. Gallen, Reichenau und Fulda, in denen nach antikem Lehrplan die sieben freien Künste und als Krönung des Studiums die Botschaft des Evangeliums gelehrt wurden.
Im Gefolge der Reformation kam es zu einem Aufschwung der Schulen und Universitäten, der einen deutlichen Schub in der Schul- und Bildungsgeschichte bewirkte. Martin Luther hatte schon in seiner Schrift «An den christlichen Adel deutscher Nation» 1520 die Errichtung eines allgemeinen Schulwesens gefordert, damit alle imstande seien,die Bibel zu lesen.
Das Religiöse verflüchtigt sich
Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieb die Schule weitgehend eine Aufgabe der Kirchen, gehörten Kirche und Bildung untrennbar zusammen. Auch wenn das Bildungswesen seit der Verfassungsrevision von 1874 weitgehend eine Sache des Staates ist, unterhalten die Kirchen immer noch eigene Volks- und Mittelschulen, obgleich deren Zahl rückläufig ist. Zudem bieten sie in den staatlichen Schulen konfessionellen Religionsunterricht an.
Zugegeben: Wir haben es in unserer heutigen, vollkommen pluralistischen Gesellschaft mit einer zunehmenden Säkularisierung zu tun, mit einem eklatanten Bedeutungsverlust der Religion im öffentlichen Bereich und im Leben des Einzelnen. Alles Religiöse hat sich, soweit es noch vorhanden ist, ins Private verflüchtigt. Institutionelle Religiosität, wie sie die Landeskirchen anbieten, verliert immer mehr an Boden, auch wenn in der Schweiz fast jeder Zweite angibt, an Gott zu glauben. Die Religion gleicht immer mehr einer Art Selbstbedienungsladen, wo sich jeder das holt, was er für seine seelische Hygiene gerade braucht.
Der deutsche Existenzialist Karl Jaspers hat von einem umfassenden Werte- und Sinnverlust gesprochen. Er ist eine unweigerliche Folge jenes geistigen Pluralismus, der sich an die Stelle einer Religion mit verbindlichen Werten gesetzt und so zu einer tiefgreifenden Orientierungskrise geführt hat. Dabei suchen die Menschen im Grunde Orientierung. Das zeigt sich nicht zuletzt an den neuen säkularen Heilslehren, mögen sie nun «Woke», «Queer», «Gender» oder «Klimakult» heissen.
Und hier sind die Kirchen gefragt. Anstatt vor dem Zeitgeist einzuknicken, sollten sie noch vermehrt den Mut haben, die im Evangelium verankerten Werte gegen die überhandnehmenden neuen Götzenanbeter unbeirrt zu verkünden, und das in einer Sprache, die sich nicht in inhaltsleeren Worthülsen ergeht, sondern einer Wirklichkeitserfahrung entstammt, die der heutige Mensch versteht. So könnten sich die Chancen verbessern, neue Generationen an die Kirche heranzuführen, an eine Institution, die unsere westliche Gesellschaft, will sie an ihrer christlich geformten Kultur festhalten, weiterhin braucht.