Was Frauen und Männer wollen – und was nicht
Wer würde in der Schweiz von sich behaupten, er sei nicht egalitär? Genau. Wohlhabende Gesellschaften orientieren sich an der Idee der Gleichheit. Das ist einerseits höchst löblich – denn alle sollen ihre faire Chance haben. Anderseits nimmt die Beschäftigung mit Gleichheitsfragen zuweilen obsessive Züge an. Dann verstrickt sich die öffentliche Diskussion in Widersprüche und führt zu fragwürdigen politischen Massnahmen.
Um zwei aktuelle Beispiele herauszugreifen: die angebliche Lohndiskriminierung und die berufliche Gleichstellung der Frauen.
(1) Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – das ist nicht nur ein überzeugendes Credo, sondern auch ein Verfassungsgrundsatz. Aber verdienen denn Frauen und Männer nicht ungleich für das Gleiche? Nimmt man bloss die absoluten Zahlen, zeigt sich in der Tat, oh Schreck: Männer verdienen in der Eidgenossenschaft 43 Prozent mehr als Frauen. Berücksichtigt man jedoch die unterschiedliche monatliche Arbeitszeit, das unterschiedliche Arbeitspensum und die unterschiedliche Berufswahl, schrumpft die Differenz drastisch – aus dem Gender-Pay-Gap wird ein Motherhood-Pay-Gap. Denn viele Frauen reduzieren nach der Familiengründung ihr Pensum, während die Männer weiter 80 bis 100 Prozent arbeiten. Wichtig zu wissen: Die Anpassungen im Erwerbsleben nehmen die Eltern nicht vor, weil sie dazu gezwungen werden, sondern weil sie sich aus freien Stücken gemeinsam für diese Lebensform entscheiden. Sie sind erwachsen und wissen haargenau, was sie tun – nämlich das, was sie eben tun.
So erstaunt es nicht wirklich, dass zwischen ledigen Männern und Frauen kaum Lohndifferenzen zu beobachten sind. Das hält den Bund jedoch nicht davon ab, die angebliche Lohndiskriminierung der Frauen mantrahaft zu wiederholen und sogar Lohnkontrollen bei Firmen der Privatwirtschaft zu fordern. Dabei hat die Forschung von Arbeitsmarktökonomen längst gezeigt: Die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern sind minim – und sie lassen sich durch unterschiedliche Berufswahl und Arbeitserfahrung erklären. Das wäre eigentlich eine frohe Botschaft – nur passt sie all jenen, die von der Bewirtschaftung sozialer Ungleichheiten leben, nicht in den Kram.
(2) Gleichheitsfixierte Gesellschaften tun sich schwer damit, zwischen Gleichberechtigung und Gleichstellung zu unterscheiden. Gleichberechtigung bedeutet, dass Männer und Freuen dieselben Chancen haben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie wollen – und nicht, wie andere ihnen vorschreiben, dass sie wollen sollen. Gleichstellung hingegen ist ein normativer Begriff – wer ihn benutzt, fordert, dass Frauen und Männer über die gesamte Population die gleichen Berufswahlen zu treffen haben. Gleichstellung wäre demnach erst erreicht, wenn es sozusagen gleich viele Plattenlegerinnen wie Primarlehrer gibt.
In den skandinavischen Ländern läuft ein spannendes Live-Experiment, das wissenschaftlich gut erforscht ist (es firmiert unter dem Begriff «Gender Equality Paradox»): Weil sich diese Länder eine teure Betreuungsinfrastruktur leisten, können Männer und Frauen tatsächlich völlig frei entscheiden, welchen Beruf sie wählen. Und obwohl Volkspädagogen dort selbst allen einbläuen, dass Frauen auch stereotype Männerberufe ergreifen sollen (Physik, Elektrotechnik, Ingenieurswesen) und Männer Frauenberufe (soziale Arbeit, Medizin oder Pädagogik), zeichnet die gesellschaftliche Wirklichkeit ein anderes Bild. Die meisten Frauen ergreifen soziale Berufe, derweil die technischen Berufe fest in der Hand der Männer sind – mehr als in weniger egalitären Gesellschaften.
Für die Volkserzieher ist dies ein Ärgernis. Sie folgern messerscharf: Die Männer und Frauen lassen sich von Rollenklischees leiten und leben im falschen Bewusstsein. In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Zwar differieren Männer und Frauen in der Normalverteilung nur sehr gering in ihren Interessen, Bedürfnissen und Präferenzen. Doch wenn die Gesellschaft tatsächlich allen Chancengleichheit bietet, fallen die kleinen Unterschiede nur umso stärker ins Gewicht – und führen am Ende zu verschiedenen Berufskarrieren. Je gleichberechtigter das Land, desto grösser sind die Unterschiede in den bewusst getroffenen Lebensentscheidungen zwischen Frauen und Männern.
Schlimm? Schlimm ist es eher, das schlimm zu finden. Denn alle sollen die Chancen im Leben ergreifen, die sie wollen.
* René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.