Zu Gast in der Beiz, in der ein Kellner im Juni 16’500 Franken verdiente – so war es
Die Ausgangslage
Seit dieser Sommersaison gilt in allen Seerestaurants der Pumpstation Gastro GmbH von Michel Péclard und Florian Weber der Umsatzlohn. Bedeutet: Die Serviceangestellten arbeiten auf eigene Rechnung und erhalten als Lohn einen Anteil von 7 bis 9 Prozent.
Die Logik ist simpel: Je mehr die Kellnerinnen und Kellner verkaufen, desto höher ihr Lohn – desto mehr Profit macht aber auch der Betrieb. Mitinhaber Florian Weber sagt gegenüber watson: «Das System ist ein grosser Erfolg, wir haben keine Probleme, Mitarbeitende zu finden, die Leute wollen zu uns arbeiten kommen.»
Integraler Bestandteil des neuen Lohnsystems ist das sogenannte «Upselling». Bestellen zwei Personen beispielsweise je ein Glas Wein, fragt die Servicekraft nach, ob sie nicht gleich eine Flasche haben möchten. Mehr und teurer zu verkaufen, lautet das Credo. Diese Strategie und das System des Umsatzlohns haben dazu geführt, dass ein Kellner im Restaurant Mönchhof am See in Kilchberg ZH im gut laufenden Juni 16’500 Franken verdient hat.
Wird das «Upselling» in den Péclard-Betrieben wirklich so aktiv betrieben? Ist das Servicepersonal auf maximalen Profit aus? watson hat im Mönchhof am See vorbeigeschaut.
Der Restaurantbesuch
11.44 Uhr: Wir kommen im Mönchhof am See in Kilchberg ZH an. Das Wetter passt, die Sonne scheint, es ist angenehm warm, aber nicht zu heiss. Die Lage am See ist wunderbar, das Restaurant stilvoll und modern eingerichtet. Platz hat es reichlich, wir können auswählen, die Tische werden sich im Verlauf des Mittags aber noch füllen.
11.45 Uhr: Aufgeregt wie Primarschüler vor dem ersten Schultag sitzen die beiden watson-Reporter am Tisch. Wird uns in den nächsten zwei Stunden die ganze Menükarte verkauft? Trinken wir statt zwei Gläsern zwei Flaschen Wein?
11.47 Uhr: Ein sehr sympathischer Kellner kommt an unseren Tisch. Leider ist es nicht derjenige, der im Juni 16’500 Franken eingefahren hat. Macht nichts. Auf der Karte sind das Essen und die Weine, die restlichen Getränke werden mündlich präsentiert. Softdrinks, Prosecco, Hugo, das Übliche.
11.52 Uhr: Wir entscheiden uns für je ein Glas Wein. Unsere Blicke treffen sich, jetzt müsste das «Upselling» ein erstes Mal zur Anwendung kommen. «Wollt ihr nicht gleich eine Flasche nehmen, bei diesem schönen Wetter?», so stellen wir uns das vor. Doch nichts da.
Wir sehen unsere Geschichte schwinden.
Dann die Essensbestellung. Wir wählen – listig wie wir sind – extra nur einen Hauptgang. Mal schauen, ob etwas geschieht. Einmal einen garnierten Salat, einmal einen Fleischspiess «mit Püürli» und dazu eine der zahlreichen Beilagen. Jetzt aber, lieber Kellner, verkauf uns bitte eine Vorspeise. Es passiert … nichts.
11.54 Uhr: Der noch immer sehr sympathische Kellner schreitet davon und wir sehen unsere Geschichte schwinden. Wir wollten erleben, wie man uns mit Charme um den Finger wickelt. Wir sahen uns mit vollen Bäuchen zurück ins Büro torkeln, vor lauter upgeselltem Rotwein. Wir hätten das von der Chefredaktorin abgesegnete Budget gerne etwas überschritten, als Beweis dafür, wie die Servicearmee von Péclard den Gästen die Moneten aus den Säcken zieht und so ihren Lohn aufbessert. Doch es scheint alles anders zu kommen.
11.55 Uhr: Mitten in der Krisensitzung werden wir unterbrochen. Der sympathische Kellner serviert die Getränke, auch ohne «Upselling» ist der Service absolut top. Die Sonne spiegelt sich im Wasser, der Wein mundet, langsam füllt sich das Seerestaurant. Die Kundschaft sieht nicht aus, als würde sie am Hungertuch nagen, es scheint das Konzept zu sein dieser Beiz: währschafte Küche, chic aufgemacht.
Sehen wir mittellos aus?
12.07 Uhr: Anders als bei Klima-Aktivist Max Voegtli urteilen die Gerichte in unserem Fall nicht, sie werden an den Tisch gebracht. Schön drapiert in Metallschalen, es macht eine Falle. Die Portionen sind für den Preis okay, aber nicht allzu gross. Die Qualität ist – anders als die grauenhafte Schreibweise auf der Menükarte («Leydy’s Kött», «Pumpischpiess, se wan-änd-oundli», «Chalbsflänkschteyk», «Barbekiuusoosä») – hervorragend. Wir sind rundum zufrieden.
12.36 Uhr: Das Geschirr wird abgeräumt und unsere Mägen fühlen sich an wie seriöse Chefs an feucht-fröhlichen Mitarbeiterfesten: nicht ganz voll. Die uns durch nicht praktiziertes «Upselling» entgangene Vorspeise macht sich etwas bemerkbar.
Soll es das gewesen sein?
12.38 Uhr: Jetzt kommt sie, die letzte Chance für den sympathischen Kellner. Dessert! Der Ball liegt auf dem Penaltypunkt, ein Goalie steht nicht im Tor, er muss nur ein einziges Mal upsellen und schon ist er Weltmeister. Doch er verschiesst. Kaffee und Espresso wird uns angeboten, Dessert nicht. Sehen wir mittellos aus? Wäre es abends anders? Fragen über Fragen.
12.39 Uhr: Konsterniert sitzen wir am Tisch. Wir sind noch nicht mal in der Hälfte des abgesegneten Budgets. Kehren wir so zurück in die Redaktion, ist es wohl das letzte Mal, dass wir für eine glatte Story («Das wird richtig lustig, das müssen wir unbedingt machen!») auf Arbeitszeit und Spesen am Zürichsee den Mittag verbringen.
12.46 Uhr: Es dauert einen Moment, bis der bestellte Kaffee kommt. Wir besprechen das weitere Vorgehen, legen uns rechtfertigende Ausreden zurecht. Soll es das gewesen sein? Wir besuchen ein Restaurant, in dem Kellner dank Umsatzlohn und Verkaufstaktik mehr verdienen können als manch ein Manager und dann passiert genau bei uns einfach nichts?
Wir beschliessen, uns selbst upzusellen.
12.49 Uhr: Wir beschliessen, uns selbst upzusellen. Aus lauter Trotz. Weil noch viel Budget da ist. Und genügend Platz in unseren Mägen. Wir fragen den sympathischen Kellner nach der Dessertkarte. Die gibt es zwar nicht, doch er kann alles auswendig.
12.53 Uhr: Der Dessert kommt, unsere Kaffeetassen sind fast leer. Dass der sympathische Kellner uns nicht einen zweiten zu verkaufen versucht, nehmen wir bestenfalls gleichgültig zur Kenntnis.
13.28 Uhr: Wir bezahlen die Rechnung, geben dem sympathischen Kellner trotz allem ein grosszügiges Trinkgeld und schleichen von dannen. Was in einer «Upselling»-Orgie hätte enden sollen, war ein sehr angenehmer aber letztendlich ganz normaler Restaurantbesuch.