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Trotz Pflicht: Mehr als die Hälfte der Spitäler foutiert sich ums elektronische Patientendossier – wie kann das sein?

Gesundheitsminister Alain Berset nannte es als Beispiel dafür, was er rückblickend anders machen würde: die Einführung des elektronischen Patientendossiers. Wie sehr es harzt, zeigt sich bei den Spitälern – wobei es grosse kantonale Unterschiede gibt.

Die tiefe Quote passt nicht ins Bild der korrekten Schweiz. Aber sie passt zur verkorksten, langwierigen Geschichte des elektronischen Patientendossiers. Seit drei Jahren sind die Spitäler verpflichtet, sich diesem Projekt anzuschliessen. Getan haben dies laut Bundesamt für Gesundheit erst 44 Prozent. In manchen Kantonen ist die Quote deutlich tiefer.

Mehr als die Hälfte der Spitäler foutieren sich also um die gesetzliche Vorgabe. Wie kann das sein? Wer sich bei verschiedenen Akteuren umhört, erhält eine einhellige Antwort: Das elektronische Patientendossier ist in seiner aktuellen Form nicht gerade das Gelbe vom Ei.

Yvonne Gilli, Präsidentin der Ärztevereinigung FMH, formuliert es so: «In der jetzigen Form ist es wenig nutzenbringend und wird entsprechend nicht angewandt.» Und der Spitalverband H+ kritisiert, die Anbindung der Spitäler an das Patientendossier habe «exorbitante Geldsummen» gekostet, «ohne irgendeinen Nutzen zu stiften».

Eigentlich soll das elektronische Patientendossier, kurz EPD, sowohl den Patienten wie auch dem Gesundheitsfachpersonal dienen, indem es alle relevanten Informationen zum Patienten bündelt. Alle Fachpersonen erhalten Zugriff, sofern es der Patient erlaubt. Damit soll beispielsweise eine Ärztin rasch einen Überblick über frühere Untersuchungen haben. Das soll auch die Qualität der Behandlung verbessern.

Doch das EPD krankt an mehreren Problemen. Erstens ist die technische Anbindung kompliziert, weil Spitäler verschiedene Systeme nutzen. Kommt hinzu, dass es – Föderalismus sei dank – gleich mehrere EPD-Anbieter gibt. Drittens lassen die Funktionalitäten zu wünschen übrig. Und schliesslich ist die Verbreitung in der Bevölkerung tief – bislang haben rund 21’000 Personen ein EPD eröffnet.

Es ist ein Teufelskreis: So lange die Verbreitung tief ist, ist es wenig attraktiv – sowohl für Patienten als auch für die Gesundheitsinstitutionen. Das zeigt sich auch bei den Alters- und Pflegeheimen. Diese sind seit einem Jahr ebenfalls verpflichtet, sich einem Anbieter anzuschliessen – doch lediglich ein Drittel erfüllt laut Bund bisher die Vorgabe. Die Geschäftsführerin des Verbands Curaviva, Anna Jörger, erklärt dies unter anderem auch mit der tiefen Verbreitung. Es werde noch einige Zeit dauern, bis Bewohnende mit EPD eintreten werden, sagt sie. «Dieser Umstand wirkt wenig motivierend.»

Der Föderalismus lässt grüssen

Wie viele Spitäler das EPD bereits nutzen, ist – wie so oft in der Schweiz – je nach Kanton sehr unterschiedlich. Eine Übersicht können zwar weder Bundesamt für Gesundheit noch die Koordinationsstelle eHealthsuisse noch die Gesundheitsdirektorenkonferenz liefern. Nachfragen bei mehreren kantonalen Gesundheitsdepartementen offenbaren aber die Unterschiede.

In mehreren Kantonen können bisher nur wenige Spitäler das EPD tatsächlich verwenden. So verfügen beispielsweise im Kanton Luzern zwar alle neun Spitäler über einen Vertrag, doch aktiv genutzt werden kann das EPD erst im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. Im Kanton St.Gallen haben ebenfalls alle Spitäler Verträge, vollständig angeschlossen sind aber erst deren zwei (Kantonsspital St.Gallen und die Klinik Valens). Auch aus Basel-Stadt heisst es, es seien alle Spitäler angeschlossen, viele davon seien aber noch nicht in der Lage, das EPD zu lesen oder zu bearbeiten.

Dem Vernehmen nach sind die Quoten in vielen Deutschschweizer Kantonen tief. Ganz anders der Aargau: Hier sind acht von neun Spitälern sowie alle Rehakliniken und psychiatrischen Kliniken angeschlossen. Ein Grund für die Verbreitung dürfte der Anbieter sein: Die Stammgemeinschaft Aargau war die erste, die in der Schweiz mit dem Patientendossier startete.

Auch das Bündnerland ragt heraus. Im Kanton Graubünden seien alle Spitäler angeschlossen, sagt Richard Patt, Geschäftsführer des Anbieters eSanita. Dieser hat sich zunächst in der Südostschweiz etabliert, inzwischen hat er Mitglieder aus der ganzen Deutschschweiz. «Das Spital muss einen Nutzen haben, damit es beim Patientendossier mitmacht – und möglichst wenig Aufwand», sagt Patt. Deshalb biete eSANITA eine duale Lösung an: Zum einen eine digitale Vernetzungs-Plattform für den sicheren Dokumenten- und Datenaustausch. Darüber kann ein Spital beispielsweise dem Hausarzt den Austrittsbericht zustellen. Gleichzeitig wird der Bericht im elektronischen Patientendossier abgelegt – ohne Aufwand für das Spital, wie Patt betont.

Verbesserungen kommen – in gemächlichem Tempo

Nun sollen die Kantone den Spitälern Beine machen. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren hat ihre Mitglieder im Juni in einem Schreiben auf die tiefe Anschlussquote hingewiesen, wie Sprecher Tobias Bär erklärt. Man habe sie gebeten, die Institutionen an ihre gesetzliche Pflicht zu erinnern.

Viel mehr als mahnende Worte haben die Spitäler derzeit aber nicht zu fürchten. Das soll sich ändern: Der Bundesrat will Bussen einführen, wie er kürzlich ankündigte. Zudem will er künftig auch Arztpraxen und Apotheken zum EPD verpflichten. Und für alle Personen in der Schweiz soll kostenlos ein Patientendossier eröffnet werden, sofern sie nicht Widerspruch einlegen. Noch sind das erst Vorschläge – entscheiden wird dereinst das Parlament.

Gleichzeitig werden die Funktionen des EPD ausgebaut, allerdings im gemächlichem Tempo. Dieses Jahr ist die Einführung eines Impfausweis geplant. Eine Ärztin oder ein Apotheker soll dadurch auf einen Blick sehen können, welche Impfungen bereits gemacht wurden – und auch gleich den neuen Piks vermerken können. In den nächsten Jahren sollen unter anderem Medikationsplan und Allergiepass folgen, wie kürzlich an einer Medienkonferenz bekannt gegeben wurde.

Kurzfristig versuchen die Behörden, mit einer Kampagne die Verbreitung des Dossiers zu verbessern. In einer ersten Phase richtet sich diese an Gesundheitsfachleute. Während der Spitalverband H+ die Kampagne unterstützt, steht die Ärztevereinigung FMH indes abseits. Präsidentin Yvonne Gilli findet, es handle sich um eine «reine Werbekampagne für ein EPD, das in der heute vorhandenen Ausgestaltung weder die Patientensicherheit erhöht noch für die Ärzteschaft nutzenbringend ist». Die FMH konzentriere sich auf die Begleitung der laufenden Verbesserungen.

Selbst um die Kampagne gibt es also Zwist. Auch das passt zur verkorksten Geschichte des elektronischen Patientendossiers.

Wie eröffne ich ein elektronisches Patientendossier?

Zuerst müssen Sie sich für einen Anbieter entscheiden. Der Prozess, wie sie danach ein Dossier eröffnen, ist je nach Anbieter verschieden. Anschliessend können Sie entscheiden, welchen Gesundheitsfachleute Sie Zugriffsrechte geben. Mehr Informationen: www.patientendossier.ch/privatpersonen

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