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Seltenes Syndrom bei Kleinkindern: Warum diese Erkrankung oft unerkannt bleibt

Die Krankenkassen zögern bei der Finanzierung genetischer Untersuchungen bei Kindern mit Entwicklungsrückständen. Das hat Folgen: So bleibt beispielsweise das seltene Noonan-Syndrom oft lange unerkannt.

Flurin kommt mit Normalgewicht zur Welt. Doch die ersten Wochen sind für ihn und seine Eltern unerwartet schwierig. Er kann nicht richtig trinken, weint viel, und sobald man ihn auf den Rücken legt, kommt das Wenige, das er getrunken hat, wieder hoch.

«Es war unglaublich streng, und ich machte mir grosse Vorwürfe», erinnert sich Barbara Buser, Flurins Mutter. «Er ist mein erstes Kind und ich dachte, das liegt alles an mir.»

Der Kleine verliert Energie, schläft nur noch, ist untergewichtig. «Wenn ich die Fotos anschaue, mache ich mir Vorwürfe», sagt Buser. Aber niemand habe realisiert, was Flurin gefehlt hatte.

Als er drei Monate alt war, seien sie auf dem Notfall gelandet, Flurin wurde mit der Sonde ernährt, und er wurde gründlich untersucht. Ein Genetiker schöpfte Verdacht, dass Flurin das sogenannte Noonan-Syndrom haben könnte und schickte sein Blut zur Genanalyse. Drei Monate später bestätigte sich die Diagnose.

Normale Pränataltests sehen den Defekt nicht

Flurin hat eine seltene Mutation des Noonan-Syndroms, das unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Die Hauptmerkmale sind Kleinwuchs, eine breite Stirn, tiefstehende Ohren, ein Lidachsenverlauf nach aussen und unten, Herzfehler sowie Entwicklungsverzögerungen. In der Schweiz kommen jährlich circa 40 Kinder mit dem Noonan-Syndrom zur Welt.

In der Schweiz zulässige Nichtinvasive Pränataltests (NIPTs) können das Noonan-Syndrom nicht erkennen, da sie nur die Chromosomen, nicht die Gene untersuchen. Es brauche eine invasive Abklärung, wie zum Beispiel eine Chorionzottenbiopsie oder Fruchtwasserpunktion und dann gezielte Analysen bei den Genetikern, sagt Nicole Ochsenbein-Kölble, Direktorin der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsspital Zürich.

Flurins Eltern hatten einen standardmässigen Ersttrimestertest gemacht, der unauffällig war. Auch bei der Untersuchung des Blutes in der Schweiz nach der Einlieferung in den Notfall, konnte man nichts finden. Der Genetiker aber insistierte und schickte das Blut nach Deutschland für eine genauere Analyse. Dort wurde das Noonan-Syndrom erkannt.

Kein Einzelfall

Was genetische Untersuchungen betrifft, sei die Schweiz ein Entwicklungsland, sagt Kees Noordam. Der Holländer forscht seit 20 Jahren im Bereich des Noonan-Syndroms und arbeitet seit 2020 im PEZZ. Er kritisiert, dass Kinderärzte in der Schweiz oft zögerten, ein auffälliges Kind genauer untersuchen zu lassen, meist mit der Begründung: Und dann? Was ändert sich mit einer Diagnose?

Auch die Krankenkassen bremsten genetische Untersuchungen mit derselben Begründung, sagt Noordam. «Sie sagen, das habe ja keine Konsequenzen für die Behandlung.» Ob es eine Kostengutsprache gibt, habe wenig oder nichts zu tun mit den bei einem Kind vorhandenen klinischen Merkmalen. Noordam plädiert für eine Schulung der Kinderärzte in dem Bereich und sagt: «Die Krankenkassen sollten verstehen, dass sie langfristig Geld sparen, wenn sie genetische Untersuchungen öfters bezahlen würden.» Denn mit einer Diagnose erübrigen sich viele teure Untersuchungen.

Noordam kritisiert damit indirekt die Politik. Denn ein Gentest zur Feststellung eines Noonan-Syndroms steht nicht in der Analysenliste des Bundesamts für Gesundheit. Nur die dort erfassten Analysen dürfen von der Grundversicherung übernommen werden.

Noordam ist überzeugt: Je früher Eltern die Diagnose haben, desto besser können sie und die Ärzte reagieren. Zudem würden unnötige Abklärungen verhindert und man macht den Eltern weniger Druck, die Kinder besser zu ernähren, weil man weiss, dass sie eher klein und dünn sind. Barbara Buser sagt: «Hätte ich es früher gewusst, hätte es mir die Schuld- und Versagensgefühle genommen.»

Hilfe unter Eltern

Die Diagnose habe ihr viel erleichtert, aber in der Schweiz habe ihr eine Anlaufstelle gefehlt, sagt Buser. Gerade die Ernährung in den ersten Lebensjahren könne sehr belastend sein, man kämpfe um jedes Kilo. Um diese Lücke zu schliessen, hat Buser im Sommer 2021 den Verein Noonan-Syndrom Schweiz gegründet. Es meldeten sich zunehmend Frauen bei ihr, die mit einem Noonan-Kind schwanger sind und sich darauf vorbereiten möchten, so gut das geht, erzählt sie.

Nicht zuletzt gehe es bei der Diagnose auch um den Zugang zu Leistungen der Invalidenversicherung, sagt Kees Noordam. Dafür ist eine eindeutige Diagnose nötig. 50–70 Prozent der Kinder sind kleinwüchsig, in diesen Fällen kann man ab vier Jahren Wachstumshormone geben. Die meisten Kinder sind dann als Erwachsene normal klein, statt auffällig klein.

«Man kann das Syndrom nicht ändern, aber wir wissen immer mehr, was molekular-biologisch in der Zelle passiert», so Noordam. Eine Behandlung mit kleinen Molekülen kann zum Beispiel die Verdickung der Herzmuskeln, die bei Noonan-Kindern häufig ist, rückgängig machen. «Man kann also nicht mehr sagen, dass es keine Behandlungsmöglichkeit gibt.» Es sei auch denkbar, dass man Noonan-Kinder in 50 bis 100 Jahren schon in der Gebärmutter behandeln kann.

Chance auf normales Leben

Flurin hat eine sogenannte Kras-Mutation. «Man sagte uns, das sei die schwerwiegendste Mutation, und wir stellten uns auf ein geistig sehr beeinträchtigtes Kind ein.» Doch das ist heute überhaupt nicht der Fall. Flurin entwickelt sich wie andere Kinder, einfach etwas langsamer. Wegen einer Sehschwäche geht er in eine Schule für Sehbehinderte und kommt dort gut mit. Viele Noonan-Kinder haben einen durchschnittlichen IQ. Flurin kann ein normales Leben führen. «Er ist so gut unterwegs, manchmal vergisst man das Thema», sagt Buser.