«Unsere Berufskompetenz wird infrage gestellt» – auch Aargauer Physios sind empört über Sparpläne des Bundesrates
Der Bundesrat will die Tarife in der Physiotherapie anpassen. Für die Politik ist das ein Weg, die Gesundheitskosten zu dämpfen, für den Berufsstand eine Geringschätzung der Physiotherapie. Die Nachricht über den Tarifeingriff hat bei den Physiotherapeutinnen und -therapeuten für Empörung gesorgt. In einer Online-Petition des Berufsverbandes Physioswiss gegen die Anpassung sind bereits über 43’000 Unterschriften zusammengekommen.
Die zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abgerechneten Kosten für die Physiotherapie seien überdurchschnittlich gestiegen, schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zur Verordnung. Dabei werde aber nicht erwähnt, dass dies gemäss Gesundheitsstrategie 2020 auch ausdrücklich gewollt ist, um Spitalaufenthalte zu vermeiden, entgegnen die Physios.
Deshalb kritisiert der Berufsverband Physioswiss, dem auch 719 Aargauer Therapeutinnen und Therapeuten angehören, den Tarifeingriff stark: Es sei unverständlich, die Vergütung einer seit Jahren unterfinanzierten Branche weiter zu kürzen. «Es wird versucht, bei der Physiotherapie ein Exempel zu statuieren, um zu zeigen, dass die Gesundheitsbehörde mit Hochdruck an tieferen Gesundheitskosten arbeitet», schreibt der Verband in einem Q&A. Denn die Physiotherapie macht nur rund 3,6 Prozent der Gesamtkosten im Schweizer Gesundheitssystem aus; rund 40 Prozent weniger als der Anteil, der in die Krankenkassenadministration fliesst.
Sparen auf dem Rücken der Patienten
Auch der Aargauer Physio-Verband teilt die Haltung des nationalen Verbandes. Wenn man die vorgeschlagene Tarifstruktur durchrechne, erhalte man unter dem Strich eine Kürzung, sagt Physioaargau-Präsident Thomas Gloor. «Auf unserem Rücken und dem der Patienten sollen Kosten eingespart werden.»
Die meisten Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten übten ihren Beruf sehr gerne aus. Doch im Alltag steigen die Anforderungen für Praktizierende immer weiter; höhere Ausbildungsabschlüsse, mehr Administration und strengere Vorschriften bei gleichem Lohn seit 1997.
Pro Taxpunkt können im Aargau aktuell über die Krankenkasse 1.05 Franken abgerechnet werden. Das macht bei einer allgemeinen Therapie 50.40 Franken Umsatz pro Sitzung. Diese dauert im Schnitt laut Physioswiss-Studie rund 35 Minuten. Hinzu kommen fast 10 Minuten unbezahlte Tätigkeiten, wie Praxisräume vor- und nachbereiten, Dossierführung, Terminplanung sowie Wechsel zwischen Patientinnen und Patienten. Obendrauf kommen noch Mieten, Löhne, Nebenkosten, IT, Reinigung und Versicherungen.
Zeitkomponente soll Transparenz schaffen
Konkret schlägt der Bundesrat zwei Varianten zur Tarifanpassung vor. Beide behandeln im Kern die Festlegung einer Zeitkomponente. Grundsätzlich sehe auch Physioaargau die Notwendigkeit der Einführung eines Zeitaspekts, so der Verbandspräsident. Die Physiotherapie sei heute die einzige Branche im Gesundheitswesen, die noch pauschal abrechne. Doch damit seien erneut Mehraufwände verbunden, die nicht vergütet werden können; sowohl für die Physio-Praxen als auch für die Krankenkassen.
Der Bundesrat argumentiert aber, dieser Mehraufwand schaffe Transparenz. Doch Gloor befürchtet, dass dadurch die Qualität der Therapien leide. Es sei inakzeptabel, dass Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten die Zeit am Patienten vorgeschrieben werde. Vor allem, da der Therapiefortschritt stark von der Verfassung der Patienten abhänge. Der Vorschlag des Bundesrates wirke insgesamt wie «Portemonnaie-Denken», aus der Feder von jemandem, der die Bedürfnisse des Patienten nicht kenne, sagt der Verbandspräsident.
Laut Bundesrat sollen die aufwendigeren Therapien strenger begründet werden. Bereits jetzt müssen Physiotherapeuten oft mit den Krankenkassen verhandeln, ob eine aufwendigere Therapie gerechtfertigt sei, so Gloor. Durch seine Berufserfahrung sei er durchaus in der Lage abzuschätzen, welche Therapie angebracht sei. Mit dem bundesrätlichen Vorschlag müsste er jedoch stets mit Ärzten und der Kasse Rücksprache halten. «Dadurch wird die Kompetenz der Physiotherapeuten infrage gestellt», sagt der Verbandspräsident. Auch Physioswiss betitelt die schärferen Begründungen von aufwendigen Therapien als administrativen Moloch.