Giuseppe Gracia im zt Talk: «Wer seine Sätze nicht foltert, foltert seine Leser»
Das Schreiben geht Gracia auch nach mehr als einem Dutzend Publikationen nicht leichter von der Hand. «Die Ansprüche an mich selbst werden immer grösser. Ich schreibe regelmässiger und systematischer als früher, aber nicht so schnell. Ich probiere mehr aus und experimentiere mehr», sagt er im zt Talk. Auch die Tatsache, dass er älter geworden sei (er hat Jahrgang 1967), ist spürbar: «Es ist anstrengender geworden. Früher habe ich einfach durchgeschrieben, bin in den Ausgang – und habe danach weitergeschrieben.»
Als Schriftsteller sei er diszipliniert – «aber nicht extrem», wie er sagt. «Ich muss noch arbeiten, um Geld zu verdienen. Vom Schreiben leben kann ich nicht, ich bin nicht Stephen King. Ich muss mich aber disziplinieren, sonst geht es gar nicht. Die Muse, die das Genie küsst, ist ein Mythos von Romantikern, die keine Ahnung haben, wie kreative Arbeit wirklich läuft. Jemand hat mal gesagt, Kreativität sei 90 Prozent Transpiration und zehn Prozent Inspiration – das ist so. Transpiration braucht Disziplin.»
Seine Sätze schleift er immer und immer wieder. «Der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila sagte: ‹Wer seine Sätze nicht foltert, foltert seine Leser. › Ich glaube, das stimmt.» Je mehr man an einem Satz arbeitete, je mehr man ihn auspresse, bis er die beste mögliche Form habe, desto besser werde ein Text. «Bis dorthin ist es ein langer Weg. Aber es ist ein Dienst am Leser.» Er vergleiche es mit dem Sport: «Wenn ein Fussballer jahrelang Elfmeter-Schiessen trainiert, sieht das am Schluss total einfach aus.» Aber es stecke jahrelange Arbeit dahinter. Manchmal überarbeite er einzelne Absätze seiner Romane Dutzende Male. «So lange, bis ich das Gefühl habe, jetzt schade ich dem Text nur noch.»
Eines der besten Stilmittel sei immer noch jenes, das Alfred Hitchcock regelmässig einsetzte: Das Publikum weiss mehr als die Protagonisten der Handlung. Wenn in einer Handlung unvermittelt eine Bombe explodiere, erzeuge das Drama, Schock und Aufregung. «Spannung entsteht dann, wenn ich das Publikum fünf Minuten vor der Explosion darüber informiere, dass die Bombe unter dem Tisch tickt.» Das erzeuge unerträgliche Spannung. Diese Technik kann ein Autor auch literarisch umsetzen: «Der Leser weiss mehr als die Figur. Die Figur läuft in eine Falle. Der Leser weiss das Seite 20 schon – Seite 60 läuft die Romanfigur tatsächlich in die Falle.» – «Gute Erzählungen sind Verführung. Das ist ein wahnsinnig schönes Handwerk.»
In seinem neuen Roman «Schwarzer Winter» begehen radikalisierte Klima-Aktivisten Anschläge. «Ich habe jahrelang über die Klimabewegungen recherchiert und auch mit Leuten von Extincion Rebellion in London gesprochen. Ich merkte, dass sie ziemlich apokalyptisch drauf sind. Wenn man tatsächlich glaubt, dass die Welt untergeht, dann sind gewisse Massnahmen, um den Untergang zu verhindern, legitim. Man kann also radikale Massnahmen vor dem eigenen Gewissen legitimieren.» In seinem Roman geht es um eine Gruppe, die aus dieser Erzeugung heraus radikal wird und Gewalt anwendet. «Für sie steht die Welt auf dem Spiel». Gracia hatte zudem Kontakt mit Bettina Röhl, der Tochter von Ulrike Meinhof, einem der Köpfe der Roten Armee Fraktion (RAF). «Sie erzählte mir, dass die Briefe ihrer Mutter aus dem Gefängnis immer mit dem gleichen Gruss endeten: ‹Die RAF hat euch lieb.› Und nicht: ‹Ich habe dich lieb›.» In seinem Roman gehe es um den Verlust von Gefühlen und der Fähigkeit zu lieben, wenn Leute in den Untergrund gehen und sich vollkommen einem Kollektiv verschreiben.